Belletristik und Sachbücher

Zsuzsa Selyem, Regen in Moskau

h.schoenauer - 15.02.2021

zsuzsa seleym, regen in moskauWenn einem eine Geschichte schon Haltegriffe in Gestalt von Ortsnamen und Zeitangaben in den Beipackzettel steckt, dann sollte man diese Angaben nicht ignorieren. Diese äußeren Angaben sind kleine Guckfenster, um dadurch ins Innere der Erzählung zu schauen, die unter hohem Druck steht und wie in einem Reaktor mannigfaltige historische Prozesse ablaufen lässt.

Zsuzsa Selyem beschreibt unter dem poetischen Titel „Regen in Moskau“ eine Geschichte von Zwangsmobilität, Glückssuche und Sich-zurechtfinden mit dem Faktischen. Allein schon der Erzählstandpunkt ist irritierend, neben betroffenen Aussiedlern, Wachpersonal und historischen Funktionären ist es das Ungeziefer, das erzählt. Immer wieder berichtet jemand von der Eiablage, und wie er oder sie dann von der Wand herunter sind und diesen oder jenen gestochen haben, um ihm ein wenig Blut abzusaugen.

Liviu Rebreanu, Der Wald der Gehenkten

h.schoenauer - 10.02.2021

liviu rebreanu, der wald der gehenktenAufsehenerregende Romane sind oft für eine einzige Szene bekannt. Diese ist an und für sich überschaubar, breitet sich dann aber über ein ganzes Jahrhundert aus.

Liviu Rebreanus „Der Wald der Gehenkten“ aus dem Jahre 1922 versucht aufs erste einmal Atem zu holen und das Desaster des Weltkriegs in halbwegs greifbaren Bildern darzustellen. Weltberühmt ist der Roman inzwischen wegen der Hinrichtung im ersten Kapitel. Das Besondere dieser Aktion am Rande der Geographie und des Kriegsgeschehens ist die groteske Hilflosigkeit, mit der die Beteiligten die Sache hinter sich bringen wollen, inklusive des Delinquenten, der nur einen Wusch hat, dass diese vermurkste Hinrichtung möglichst bald vorbei ein möge. Bei dieser speziellen Hinrichtung handelt es sich um eine österreichische Amtsaktion unter Kriegsbedingungen. Das ist so das Schlimmste, was man sich als Soldat, Beamter, Mensch oder Österreicher wünschen kann.

Elisabeth Lexer / Robert Boulanger, Maiandacht

h.schoenauer - 05.02.2021

elisabeth lexer, maiandachtMaiandacht ist ein religiöses Zeremoniell, das in der öffentlichen Lesart gerade noch als Volksbrauch oder Meditationsübung durchgeht, in entlegenen Landesteilen aber vollends ins Archaisch-Mythische hineingreift. So ist der echte Maiandachtskult für den Tourismus noch immer tabu, wer ihn erkunden will, muss entweder Betroffener oder Forensiker sein.

Elisabeth Lexer und Robert Boulanger haben die Form des Kriminalromans gewählt, weil man sich dadurch landläufig etwas vorstellen kann und weil erzähltechnisch gesehen so die diversen Geheimnisse geknackt werden können, indem einfach ein Chefinspektor über die Sache drüberscannt. In der Tiefenstruktur ist der Roman durchaus ein Stück Ethnographie, Psychologie und Dialektologie. In einem Glossar werden nämliche die einzelnen Fügungen nicht nur in eine Allgemeinsprache transferiert, ihre Auswahl und ihr semantisches Selbstbewusstsein deuten darauf hin, dass diese Begriffe auch den Sinn des Lebens in einem gewissen Landstrich ausmachen. Diese regionale Feldforschung ist gewissermaßen die Antwort auf die Globalisierung, der Kosmos ist nämlich ein Wallfahrtsort mit aufgesetztem Wellnessbereich.

Wolf Haas, Junger Mann

h.schoenauer - 01.02.2021

wolf haas, junger mannDie Literatur von Wolf Haas ist eigentlich eine Tournee, bei der als Benefit für die Leser die Romane verteilt werden. Wenn jemand geh-schwach ist, kann er sich die Tournee auch ins Haus schicken lassen, eingehüllt in den Roman kommt ein Lesezeichen zum Vorschein, auf dem die wichtigsten Lesungen des Wolf Haas aufgezählt sind.

Erfurt, Berlin, Hamburg, Wien: Das Lesezeichen erinnert an einen ICE-Plan, an dessen Umsteige-Knoten zu gewissen Terminen der Wolf Haas sitzt und vorliest. Bei ihm ist ausnahmsweise das Vorlesen nicht falsch, zumal der „Schreibstil“ oft sehr österreichisch mündlich ist. Und wenn man sich den Umschlag und alles kurz wegdenkt, sitzt man vielleicht mitten in einem Horvath-Stück. Alles könnte eine politische Anspielung sein, gleichzeitig ist alles ein rosarotes Trallala, das in tiefroten Ernst übergehen kann.

Peter Clar, Die Worte, sagst Du

h.schoenauer - 27.01.2021

peter clar, die worteIn Gedichten werden Botschaften verdichtet, homöopathisch verdünnt oder überhaupt zum Verdunsten gebracht. Im Idealfall verflüchtigen sich die Worte kurz bevor sie ihr Ziel erreichen, sodass sich das lyrische Gegenüber seinen eigenen Reim auf das machen muss, was Reim-los angedeutet ist.

Peter Clar nimmt die Ur-Konstellation der Lyrik als Titel für seinen Gedichtband. Wort, Du und Punkte, die das Versickern des Gedankenganges andeuten. Seine drei „Versuchsanleitungen“ bestehen einmal als Farbankündigung, dann als Einstellung des Empfängers auf die Nachrichten und im dritten Teil aus einer leeren Regieanweisung, die in ein Mayröcker-Zitat mündet.

Hallie Rubenhold, The Five

andreas.markt-huter - 22.01.2021

hallie rubenhold, the five„Meine Absicht beim Schreiben dieses Buches war es nicht, den Mörder zu jagen und zu benennen. Mein Wunsch ist es stattdessen, den Wegen der fünf Frauen nachzuspüren, ihre Erfahrungen im Kontext ihrer Zeit aufzuzeigen und ihre Leben durch Düsternis und Licht gleichermaßen zu verfolgen.“ (S. 30)

Heute noch steht der Name Jack the Ripper als Synonym eines bestialischen Massenmörders, der die Gesellschaft seine Zeit in Atem hielt und Furcht und Schrecken verbreitet hat. Während dieser in die Geschichte eingegangen ist, sind seine Opfer – fünf Frauen – in Vergessenheit geraten. Ihnen und ihren persönlichen und sozialen Lebensumständen ist dieses Buch gewidmet.

Erika Wimmer Mazohl, Löwin auf einem Bein

h.schoenauer - 15.01.2021

erika wimmer, löwin auf einem beinEs gibt Romane, darin explodieren die Heldinnen mit eruptiven Gesten, und dann gibt es diese gereiften Abklärungsromane, die im Stile von Archivaren und Archäologen das Zeitlose am Leben halten.

Erika Wimmer Mazohl verbindet beides, das aufregend Historische der jüngeren Gegenwart mit dem Bedächtigen, das als Biographie entsteht, wenn das Leben nur lange genug dauert. Die Kunst ihres Romans beginnt schon damit, dass Personen und Ideen zusammengeführt werden, sie sich normalerweise aus dem Weg gehen. Das Figuren-Set ist scheinbar kompakt überschaubar und dient dazu, die komplexe Welt mit einem halbwegs stabilen Koordinatennetz zu überziehen.

H. W. Valerian, Mourir pour Dantzig

h.schoenauer - 13.01.2021

valerian, mourir dantzigSoll ich heute überhaupt was erleben? - Diese Frage der Spätromantik gilt heute als schwer überholt, besteht der Sinn des Lebens doch darin, möglichst viel zu erleben. Im Alter freilich kommt immer öfter die Frage auf, was tue ich mit dem Erlebten?

Für H. W. Valerian stellt eine Busreise durch das gegenwärtige Polen so ein Erlebnis dar, das irgendwie unbeabsichtigt aufgetaucht ist wie so viele Aktivitäten, die jemand im Ruhestand vollbringt. Nun ist diese Polenreise also einmal geschehen und für den belesenen und historisch interessierten Autor geht es darum, damit etwas anzufangen. In erster Linie heißt das für seine Generation: Aufschreiben.

Peter Steiner, Das Schweigen der Meere

h.schoenauer - 11.01.2021

peter steiner, das schweigen des meeresDie Konstellation fiktionaler Figuren kann man als Leser auswendig lernen oder vergessen, beides hat auf den Fortgang eines Romans keine Auswirkung. Wir kennen es ja von den russischen Realisten, wo man entweder ein Lexikon skurriler Figuren neben dem Buch liegen hat oder einfach alle Figuren mit einem „ow“ hinten dran als Helden deutet.

Peter Steiner rückt im Roman „Das Schweigen der Meere“ einen achtzigjährigen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt, der in einem längeren Vorspiel scheinbar sinnlos Konstellationen und Figuren kundtut. Teilweise stellt sich der Erzähler selbst die Figuren auf, teils räsoniert er, teils spekuliert er. Dieses Vorspiel ist das Ausbrüten längst vergangener Ereignisse, die niemanden mehr interessieren, weil die Zeitgenossen schon alle gestorben sind und die Nachfahren andere Interessen haben.

Gerhard Ruiss, Blech

h.schoenauer - 08.01.2021

gerhard ruiss, blechLyrik ermöglicht ja im Detail ähnlich wie Kultur als Ganzes einen höchsten menschlichen Zustand, der sich zwischendurch in Gedichten materialisiert. Diese Gedichte manifestieren sich gleich einem Handwerkzeug zu einem stofflichen Gebilde, das im Idealfall einer Epoche den Namen zu geben vermag, wie es etwa die Bronze-, Stein- oder Eisenzeit gibt.

Wenn Gerhard Ruiss seine aktuelle Gedichtsammlung „Blech“ nennt, spielt er augenzwinkernd auf eine große Epoche an, nämlich die blecherne Zeit. Tatsächlich erklärt das Schlussgedicht pragmatisch, was es mit diesem Blech als Gedicht auf sich hat.