Leseerziehung in Europa: Ziele, Grundlagen und Maßnahmen - Teil 2

Nur wenige Fragen der europäischen Bildungspolitik erregen mehr Interesse als jene, wie es gelingen kann, Lesekompetenz zu fördern und den Anteil an Risikoschülern beim Lesen zu verringern. Gerade in den letzten Jahren wurde zahlreiche EU-Studien und –Projekte durchgeführt mit dem Ziel, Grundlagen, Vorgaben und Orientierung für eine gesamteuropäische Bildungsoffensive im Bereich der Leseförderung in die Wege zu leiten.

In manchen Ländern mit einer hohen Anzahl an Risikoschülern im Bereich Lesen war die Öffentlichkeit aufgeschreckt über die zum Teil schlechten Ergebnisse bei internationalen Vergleichsstudien im Bildungsbereich wie PISA oder PIRLS. Häufig übersehen wurde dabei, dass sich die Anforderungen an das Lesen in den letzten Jahrzehnten durch den Übergang in eine hochtechnologische Wissens- und Mediengesellschaft erheblich verändert hatten.

Die Eurydice-Studie „Leseerziehung in Europa: Kontexte, politische Maßnahmen und Praktiken“ der Untersuchungsjahre 2009/10 wurde im Kontext der oben genannten Zielvorgaben durchgeführt. Dabei sollten die wichtigsten Faktoren für den Erwerb von Lesefertigkeiten anhand der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse ermittelt werden. Außerdem wurde untersucht, in welchem Ausmaß die nationalen politischen Maßnahmen diese Faktoren berücksichtigen und umsetzen.

 

* * * * *    Teil 2   * * * * *

 

Maßnahmen zur Förderung von leseschwachen Schülern

In diesem Kapitel beschäftig sich die Studie mit dem zentralen Punkt, wenn es darum geht, den Anteil an leseschwachen Schulabgängern in der EU in den nächsten zehn Jahr drastisch zu senken. Gerade bei der Förderung von leseschwachen Schülerinnen und Schülern zeigen sich den europäischen Schulsystemen doch erhebliche Unterschiede.

Maßnahmen von Lehrern

Einer der wichtigsten Punkte, wenn es um die Förderung leseschwacher SchülerInnen geht, ist die Frage an die Lehrerinnen und Lehrer, „wie sie üblicherweise vorgehen, wenn sie bemerken, dass ein Schüler im Lesen hinter der Klasse zurückbleibt.“ (Leseerziehung in Europa: Kontexte, politische Maßnahmen und Praktiken, S.68)

Die möglichen Antworten auf diese Frage wurden zusammengefasst und einem der folgenden drei Typen von Lösungsansätzen zugeordnet:

Abwarten (löst sich das Problem im Laufe der Entwicklung von selbst)
Jeder 3. Schüler hat einen Lehrer, der abwartet, ob sich die schwachen Leseleistungen mit zunehmendem Entwicklungsfortschritt von selbst verbessern.
In Belgien (frz. Teil), Italien, Lettland, Luxemburg und Österreich war die Einstellung sogar noch stärker verbreitet.

Zusätzliche Hausaufgaben aufgeben
Hier reicht die Spanne von 23% in Frankreich bis 97% in Bulgarien. Die hilft nur, wenn die Kinder die nötige Unterstützung von zu Hause erhalten, was gerade bei leseschwachen Kindern selten der Fall ist.

Förderung innerhalb des Unterrichts
durch Individualisierung des Unterrichts, Verbesserung der Lernbedingungen, Schüler dürfen Aufgaben in ihrem Tempo ausführen, Mitschüler helfen leseschwächeren Schülern

Förderung durch Einzelunterricht
(Variiert zwischen den Staaten von 72 – 99%)

Einsatz von zusätzlichem Personal
Der Einsatz von zusätzlichem Fachpersonal für die Leseförderung gilt als überaus wirkungsvolle Methode der intensiven Förderung von leseschwachen Schülern, dabei kann es sich um Einzelförderung oder Unterricht in kleinen Gruppen handeln. Wichtigstes Element für eine sinnvolle Unterstützung ist der dabei vor allem der Einsatz von gut ausgebildeten Fachkräften für Leseförderung.

Nur 18% der europäischen SchülerInnen der 4. Jahrgangsstufe stand ständig Personal für die Leseförderung zur Verfügung. In Österreich lag dieser Wert bei knapp 6%. Eine ausgebildete Fachkraft für die Leseförderung stand nur mehr für durchschnittlich 7,9% der europäischen SchülerInnen des 4. Jahrgangs im Unterricht zur Verfügung. In Österreich erhielten 2,7%, in England 22,7% und in Deutschland lediglich 0,3% der SchülerInnen eine derartige Unterstützung.

Förderangebote im europäischen Vergleich

Im Vergleich der europäischen Bildungssysteme erwiesen sich laut Studie vier Typen von Förderangeboten als vorherrschend:

Unterrichtsinterne Förderung
In diesen Bildungssystemen findet sich relativ häufig eine Fachkraft für Leseförderung, eine pädagogische Hilfskraft oder eine erwachsene Person die mit den leseschwachen Kindern arbeiten. Gute Schüler müssen hier selten leseschwachen Schülern helfen. Gearbeitet wird mit unterschiedlichen, auf das Leseniveau abgestimmten Lesematerialien. Diese Art der Förderung herrscht in Dänemark, Schweden, Island, Norwegen und Großbritannien vor.

Förderung durch externe Fachleute
Hier wird die Leseförderung an Spezialisten für Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Sprachtherapeuten übertragen. Ein großer Teil der Schüler hat Klassenlehrer, die individuell mit leseschwachen Schülern üben. Im Unterricht verwenden alle Schüler die gleichen Materialien, schwache Schüler erhalten aber mehr Zeit, um die Lernaufgaben zu bewältigen. Dieses Fördersystem wird in den Ländern Lettland, Litauen, Ungarn, Polen und Slowenien bevorzugt.

Förderung durch Zusatzhausaufgaben
In Ländern mit wenig Förderpersonal wie Österreich, Bulgarien, Italien und Rumänien besteht die „besteht die gängigste Strategie zur Bekämpfung von Leseschwächen darin, leseschwachen Kindern zusätzliche Hausaufgaben aufzugeben.“ (73) In Bulgarien und Rumänien gaben viele Lehrer an, individuell mit leseschwachen Schülern zu üben.

Förderung durch unterschiedliches Lerntempo
In Ländern wie Belgien, Frankreich, Luxemburg und der Slowakei bestehen Bildungssysteme, in denen relativ wenige Hausaufgaben aufgegeben werden und die einheitlichen Lesematerialien in unterschiedlichem Tempo bearbeitet werden können. Hier steht Schülern mit einem Leistungsrückstand im Lesen selten ein Zugang zu Fachkräften offen.

Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften für den Leseunterricht

Eine zentrale Frage für die zukünftige Stärkung der Lesekompetenz in den europäischen Bildungssystemen kommt natürlich der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften für den Leseunterricht zu. Auch hierfür bietet die Studie zahlreiche Anregungen und Orientierung.

Lehrkräfte sollen heute:

  • stärker forschungsorientierte Praktiker werden;
  • Klassen managen, die sowohl kulturell als auch sprachlich immer heterogener werden;
  • ihren Unterricht flexibel auf den individuellen Bedarf jedes Kindes abstimmen;
  • kultur- und gendersensibel sein;
  • wirksam auf benachteiligte Schüler und Schüler mit Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten eingehen.

Von Seiten der International Reading Association (IRA) zählt es zu den wichtigsten Kompetenzen von Lehrkräften für eine wirksame Leseerziehung, dass sie kenntnisreich, strategisch denkend, anpassungsfähig und reflektiv sind, d. h. sie verstehen den theoretischen Hintergrund des Lesens und wenden attraktive und motivierende Lernstrategien an. Dabei wirken sich Länge und Inhalt der Lehrerbildung mit größter Wahrscheinlichkeit auf die Schülerleistungen aus.

Sechs wichtige Elemente für die Lehrerbildung laut IRA

1. Grundlagen der Forschung und Theorie
Lehrkräfte benötigen ein fundiertes Verständnis der Sprach- und Leseentwicklung sowie der Lerntheorie; sie müssen imstande sein Motivation aufzubauen
Auf dieses Hintergrundwissen müssen sie ihre Unterrichtsentscheidungen stützen

2. Unterrichtsstrategien auf Wortebene
Lehrer müssen vielfältige Strategien erlernen, die sie im Unterricht einsetzen können, um das Wissen der Schüler über Wortbedeutungen und Strategien zur Worterkennung zu entwickeln

3. Verständnisstrategien auf Textebene
Lehrer müssen vielfältige Strategien vermitteln können, mit denen Schüler den Sinn eines Textes erfassen und ihr Verständnis kontrollieren können.

4. Verbindungen zwischen Lesen und Schreiben
Strategien, die das Schreiben zur Unterstützung des Verstehens mit dem Lesen von Texten verbindet; dazu gehört auch Konventionen des Schreibens

5. Unterrichtsansätze und Materialien
Unterrichtsstrategien und –materialien müssen ausgewählt, angemessen und flexibel eingesetzt werden können.

6. Bewertung
Lehrkräfte müssen Bewertungstechniken beherrschen, die sie angemessen einsetzen können, um zu situationsgerechten Entscheidungen und Reflexionen in Unterrichtsfragen zu gelangen.

Für den Leseunterricht soll im Mittelpunkt dieser sechs Elemente die Frage stehen, wie Schüler erfolgreiche Lese werden und wie die Lehrkräfte sie im Unterricht unterstützend können. Für die Lehrerausbildung gilt, dass die Wirkung stärker ist, wenn ein Ansatz des Lernens und Praktizierens verfolgt wird.

Lehrkräfte, die in ihrer Erstausbildung bereits Wissen und Erfahrungen im Bereich der Leseerziehung erworben haben, zeigen auch später ein großes Interesse daran sich in diesem Bereich weiterzubilden. Foto: Markt-Huter

Berufliche Weiterbildung für den Leseunterricht

Die wirksame Weiterbildung für Lehrkräfte ist ein entscheidender Faktor zur Verbesserung der Lesekompetenz von Schülern. Diese soll langfristig angelegt sein.

Eine hochwertige Weiterbildung der Unterrichtskompetenzen für die Leseförderung hat auch eine kollektive Dimension, an der die gesamte Schule und alle Fachkräfte beteiligt sind. Durch die Weiterbildung soll eine gemeinsame Wissensbasis unter den Lehrkräften in den Schulen geschaffen werden.

Lehrkräfte, in deren Erstausbildung Leserziehung eine größere Bedeutung hatte, greifen im Leseunterricht auf vielfältige Leseansätze zurück:

  • Sie organisieren heterogene Gruppen, wenden individualisierten Unterricht an und lassen die
  • Schüler selbständig arbeiten;
  • sie gehen das Lesen als aktiven Prozess an und regen die Schüler zu verschiedenen Reaktionen auf das Gelesene an: schreiben, mündlich Fragen beantworten, ein Projekt durchführen oder ein schriftliches Quiz oder einen Test absolvieren;
  • sie vermitteln den Schülern verschiedene Lesestrategien (z. B. Überfliegen/Scannen, Selbstbeobachtung) und erklären Wortschatz;
  • sie wenden Strategien zur Entwicklung des Leseverständnisses an, u. a. Grundgedanken
  • herausfinden, Voraussagen oder Verallgemeinerungen treffen, Schlüsse ziehen und den Stil oder den Aufbau des gelesenen Texts beschreiben;
  • sie verwenden Lehrbücher und Material für und von Kindern, ziehen kurze Texte längeren vor und greifen häufiger auf externe Bibliotheken zurück;
  • sie nutzen vielfältigere Bewertungsmethoden, z. B. mündliche Referate, Multiple-Choice-Fragen über gelesene Texte, Portfolios (Arbeitsproben der Schüler) usw.;
  • sie legen besonderes Augenmerk darauf, über die Fortschritte der Kinder beim Lesen mit deren Eltern zu sprechen (zu berichten);
  • sie vertiefen und aktualisieren ihr Wissen durch berufsbegleitende Weiterbildung zum Thema Lesen, lesen mehr Bücher über Unterrichtsfragen (allgemein und speziell im Bereich Lesen) und mehr Kinderbücher.

Dabei fördert eine Schwerpunktlegung auf die Lesevermittlung in der Erstausbildung sowohl einen wirksamen Leseunterricht in der Praxis als auch das Interesse, sich später im Bereich der Leseförderung weiterzubilden. Die positiven Auswirkungen von Zusammenarbeit, Teamwork und Wissensaustausch von Lehrkräften wurden im Verlauf der Studie immer wieder betont, dennoch sind sie eine eher unübliche Form der Weiterbildung.

Nationale Strategien zur Lehrerbildung

Untersucht wurde, inwieweit den Lehrkräften im Primarbereich und im Sekundarbereich I bei der Unterrichtssprache die notwendigen Kompetenzen für die Leseerziehung vermittelt wird und ob sie diese in Form von Schulpraktika üben können. Gefragt wurde aber auch, ob die eigene Lesekompetenz der zukünftigen Lehrer im Rahmen der Lehrerbildung bewertet wird oder wie es mit Weiterbildungsprogrammen zur Verbesserung der Kompetenzen in der Leseerziehung ausschaut.

Für den Leseunterricht erforderliche Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lehrererstausbildung

Gesucht wurde nach folgenden Kompetenzen in den nationalen Lehrplänen:

  • Allgemeine Kompetenzen oder Methoden der Leserziehung in der Lehrererstausbildung
  • Umgang mit Leseschwierigkeiten in der Lehrererstausbildung
  • Bewertung der Lesekompetenz der Schüler in der Lehrererstausbildung
  • Unterricht im Lesen von Online-Texten in der Lehrererstausbildung

Für Österreich wurde sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich I keine dieser Kenntnisse ausgewiesen!

In Frankreich, Schweden und GBR wird von allen neu qualifizierten Lehrkräften die Fähigkeit erwartet, die Lesekompetenzen der Schüler zu entwickeln, was übrigens für alle Unterrichtsfächer gilt.

Förderung des Lesens außerhalb der Schule

Lesen im häuslichen Umfeld und in der Familie

Dass Leseförderung nicht nur als Aufgabe der Schule zu betrachten ist, sondern auch die Familie und die Gesellschaft als Ganzes herausfordert wird immer deutlicher. Dabei gelten Leseaktivitäten der Eltern im häuslichen Umfeld als entscheidend für den Ausbau der Lesekompetenz von Kindern. Hier ist das Engagement der Eltern von zentraler Bedeutung, was selbstverständlich für die Bildung der Kinder im Allgemeinen gilt und sich in der frühen Kindheit am stärksten auswirkt.


Öffentlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Bibliotheken kommt in Bezug auf das Vorlesen eine wichtige Rolle zu, um das unterschiedliche Vorleseverhalten von Eltern zu kompensieren. Foto: Markt-Huter

Von Eltern angeleitete Leseaktivitäten im häuslichen Umfeld unterstützen die Entwicklung mündlicher Sprachkompetenz und der allgemeine kognitiven Fähigkeiten. In Studien wurde außerdem ein positiver Zusammenhang zwischen dem Engagement der Eltern und dem frühen Wortlesen, der Sprachflüssigkeit von Kindern und der Motivation, sowie dem Interesse und dem Vergnügen am Lesen festgestellt.

Eltern, die ihren Kindern bestimmte Lese- und Schreibfertigkeiten beibrachten – wie z. B. das Alphabet, Wortlesen oder Laut-Buchstaben-Entsprechungen – waren doppelt so wirksam wie Eltern, die ihren Kindern beim Vorlesen zuhörten, und sechs Mal wirksamer als Eltern, die ihren Kindern vorlasen.“
Leseerziehung in Europa: Kontexte, politische Maßnahmen und Praktiken (S. 114)

Die Lesemotivation wird vom Leseumfeld und kulturellem Umfeld des Lesers beeinflusst, wobei ein Zusammenhang zwischen der Auswahl der Lektüre und der Lesemotivation und Leseleistung besteht. Immer mehr Forschungsergebnisse weisen auch auf die große Bedeutung hin, die dem Lesen als Freizeitbeschäftigung, als Unterhaltung, zum Vergnügen zukommt. Denn: wer mehr liest, wird ein besserer Leser, erweitert Textverständnis und Grammatik, Wortschatzumfang und nicht zuletzt das eigene Selbstbewusstsein als Leser.

Nationale politische Strategien zur Förderung des Lesens

Leseaktivitäten außerhalb des formalen Lernumfelds der Schulen sind äußerst wichtig für die Entwicklung erfolgreicher Leser. Ein beträchtlicher Teil der Aktivitäten des „Lesenlernens“ und des „Lesens, um zu lernen“, findet außerhalb des formalen Unterrichtskontexts statt. Daher ist es für die Bemühungen, das Niveau der Lesekompetenz in Europa zu verbessern, wichtig, nicht nur beim Leseunterricht in den Schulen anzusetzen, sondern auch die allgemeine Lesekultur zu fördern.
Vgl.: Leseerziehung in Europa: Kontexte, politische Maßnahmen und Praktiken, S. 129

 

Weiterführende Links:

 

>> Leseerziehung in Europa: Ziele, Grundlagen und Maßnahmen - Teil 1

 

Andreas Markt-Huter, 23-01-2013

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