Evelyne Polt-Heinzl, Österreichische Literatur zwischen den Kriegen

Die Literatur ist oft konkreter als jede Theorie, was liegt also näher, bei der Analyse einer  Epoche neben den historischen Quellen die entsprechende fiktionale Darstellung hinzuzufügen.

Kaum eine Epoche wird in Österreich so verdrängt wie die Zwischenkriegszeit, Zyniker behaupten, weil die Parallelen zur Gegenwart zu eklatant sind. Man denke nur an Korruption, Bankencrash oder die amorphe Bevorzugung der Stände, sei es bei Dolferl (Dollfuß) oder Wolferl (Schüssel).

Evelyne Polt-Heinzl vermisst die Zeit zwischen den Kriegen neu, indem sie eine sogenannte Kanon-Revision anstellt. Dabei werden gängige Werke dieser Zeit neu bewertet und unbekannte und verdrängte Romane ins Bewusstsein gerückt. Aus etwa zweihundert Romanen, chronologisch geordnet von Arthur Schnitzlers „Casanovas Heimfahrt“ 1918 bis Annemarie Selinkos „Morgen ist alles besser“ 1938 kommen drei Beobachtungsachsen zum Vorschein, die das typische, bislang Unterbewertete dieser Zeit dokumentieren.

Nach dem ersten Weltkrieg geht es vor allem um das wirtschaftliche Desaster, das in Form von Kriegsgewinnlern, dubiosen Geschäftsleuten und seichten Spekulationen zu Tage tritt.

Die zweite Achse widmet sich den Frauen nach dem Krieg und hier insbesondere den Töchtern, die von ihren kaputten Kriegsvätern emotionslos verschachert, verkuppelt oder in der Wirtschaft verbrannt werden.

Die dritte Beobachtungsschneise kümmert sich um die neue Großstadtwelt und der darin wuchernden neuen Medien. So helfen sich Autorinnen und Autoren oft damit, dass sie den neuen urbanen Moloch mit einem überhöhten Vokabular aus der ländlichen Idylle beschreiben, da gibt es dann einen „Wasserfall der Stadt“ oder einen „Bergrutsch von  Menschen“. (192)

Es sind diese Genauigkeiten und Einzelheiten der Lektüre, die letztlich zeigen, wie die Bilder funktionieren getreu dem Brechtschen Diktum: „Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“ (153)

Evelyne Polt-Heinzl eröffnet mit ihrem Lektüre-Programm völlig überraschende Zugänge zu einer Zeit, die sie mit neuen Begriffen anordnet. So kommen Hochstapler, Kinopaläste, Schieber-Auto, Untermiete oder Feindfigur Lesbierin zuerst in den Romanen vor und dienen dann als Gerüst für einen Diskurs.

Und zwischendurch spart die Autorin nicht mit Kritik an der gängigen Literaturwissenschaft, diese steht dem Aktuellen meist skeptisch gegenüber und ist für eine Beschreibung der Gegenwart oft ungeeignet. Aber auch die Unsitte, verschollene Exilliteratur zwar auszugraben aber gleich mit süffisanten Kommentaren zu vernichten, um das Hinausdrängen aus dem Kanon zu rechtfertigen, wird angeprangert.

Ein üppiges Buch über eine politisch spartanische Zeit, ein Lesespeicher, in dem zweihundert Romane schlummern, permanente Fragestellungen, die den Leser herausfordern, Epochen-Herz was willst du mehr!

Evelyne Polt-Heinzl, Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanon-Revision.
Wien: Sonderzahl 2012. 340 Seiten. EUR 29,-. ISBN 978-3-85449-380-8.

 

Weiterführende Links:
Sonderzahl-Verlag: Evelyne Polt-Heinzl, Österreichische Literatur zwischen den Kriegen
Wikipedia: Evelyne Polt-Heinzl

 

Helmuth Schönauer, 02-01-2013

Bibliographie

AutorIn

Evelyne Polt-Heinzl

Buchtitel

Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanon-Revision

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Sonderzahl-Verlag

Seitenzahl

340

Preis in EUR

29

ISBN

978-3-85449-380-8

Kurzbiographie AutorIn

Evelyne Polt-Heinzl, geb. 1960 in Braunau, lebt in Wien.