Isabel Senoner, Narben einer Kindheit

Die schlimmste Kindheit ist wahrscheinlich jene, die entfällt. Menschen, die quasi als Erwachsene ins Leben gestoßen werden, leiden ein Leben lang darunter.

Isabel Senoner stellt eine Ich-Erzählerin vor, der das Leben gleich von Kindesbeinen an in die Parade fährt.

Da die Heldin in einer sechsköpfigen Familie von vorne herein zum Untergang verdammt ist, nimmt sie gleich die Rolle einer Erwachsenen an. So wird Mutter prinzipiell nur mit ihrem Vornamen Greten angesprochen, die Geschwister werden mit Ignoranz bestraft.

Die Kindheit lässt sich in drei Worten zusammenfassen: kurz, langweilig und unspektakulär. (17) Die Erzählerin wünscht sich vor allem eines, eine Wohnung ohne Nachbarn und Mitbewohner, weil beides nervt. In der Hauptsache verbringt das erwachsene Kind seine Tage im Zimmer, wo es sich ständig die Unterarme aufschneidet, die Rest-Zeit wird in der Stadtbibliothek heruntergebogen.

Auch später wird nichts besser, die Eltern haben Tag und Nacht Geschlechtsverkehr und schreien dabei wie am Spieß. Die Heldin fühlt sich hässlich, versucht die Segelohren zu verstecken und haut schließlich ab.

Das einzige, was ich mitnahm, war mein Körper. (56)

Als Opa stirbt, hinterlässt er eine kleine Erbschaft, jetzt geht es auf nach Berlin. Sex, Drogen, Alkohol, kurze Treffen, keine Telefonnummern, jeden Tag Vollgas mit neuen Typen. Wer hässlich ist, muss trinken und kann sich nur bei Nacht zeigen, lautet die Parole. Doch da taucht plötzlich Björn auf und will keinen Sex sondern bietet echte Gefühle an.

Björn dürfte der ideale Typ sein, der einem beim Sterben hilft, denkt sich die Erzählerin. tagelang bezirzt sie den Lover, dass er ihr was zum Sterben organisiert. Vergeblich, alles muss man selber machen, sogar das Sterben.
Mittlerweile geht das Geld zur Neige, eine Arbeit in einem Fastfood-Restaurant bringt eine Vergewaltigung durch den Chef, sonst nichts. Aber das ist die Heldin schon gewöhnt, immerhin wurde sie ja auch vom Vater vergewaltigt.

Später ist nie, heißt das letzte Kapitel, die Mutter ist an Krebs gestorben, völlig verwahrlost. Die Tochter folgt ihr nach, das Ich löst sich seltsam hell und leicht in nichts auf. Björn schickt noch ein Liebesgedicht ins Jenseits, das war es dann.
Narben einer Kindheit sind ein düsteres Kapitel einer Familiengeschichte, in der alles schief geht.

Die Logik des Ablaufs ist beängstigend, Kindheit ist etwas, was nur in psychologischen Lehrbüchern stattfindet. Die Heldin wird allmählich zu einer einzigen Vernarbung. Ich bin geheilt, weil vernarbt, sagt die Protagonistin einmal. Als Leser staunt man, wie alles kaputt gehen kann, obwohl die Heldin alles richtig macht. – Eine unheimliche Abrechnung mit der scheinbar so schönen Kindheit!

Isabel Senoner, Narben einer Kindheit. Roman.
Berlin: Frieling 2011. 125 Seiten. EUR 10,90. ISBN 978-3-8280-2944-6.

 

Weiterführender Link:
Isabel Senoner, Narben einer Kindheit

 

Helmuth Schönauer, 25-06-2012


 

Bibliographie

AutorIn

Isabel Senoner

Buchtitel

Narben einer Kindheit

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Frieling-Verlag

Seitenzahl

125

Preis in EUR

10,90

ISBN

978-3-8280-2944-6

Kurzbiographie AutorIn

Isabel Senoner, geb. 1983 in Seis, ist Sozialpädagogin.