Raoul Schrott, Das schweigende Kind

Eine ordentliche Lebenskrise hat die Kraft, ganze Jahrgänge stumm zu machen. In Raoul Schrotts Erzählung „Das schweigende Kind“ macht ein beichtender Maler eine formidable Krise durch. Äußerlich ist soeben jene Katastrophe eingetreten, die sich vielleicht innerlich schon über Jahre angestaut hat.

Der Erzähler identifiziert in einem Krankenhaus eine Frau, die die Mutter seines Kindes ist. Offensichtlich ist sie erstickt, vielleicht sogar erwürgt worden.

In dreiundreißig Kapiteln legt der Maler eine verbal eruptive Beichte an sein schweigendes Kind ab. Dabei kommt jeweils eine These aus der Kunst als Überschrift zum Einsatz, wie etwa „Alle Kunst ist letztlich nur eine Spielart der Notzucht.“ (73) Im Anschluss daran erzählt der Künstler von seiner Schaffenskrise, ehe er sich flehentlich an das stumme Kind wendet, die Sachlage wenigstens zu verstehen, wenn es schon nicht antworten kann.

Tatsächlich steht die Schaffenskrise mit der Geburt des Kindes im Zusammenhang. Aus Freude, Vater geworden zu sein, nimmt der Maler einen verrückten Auftrag an, indem er ein persönlich gestaltetes Firmament malen soll, woran er natürlich scheitert.

In Rückblenden kommt sein Verhältnis zu einem Mal-Modell Kim zum Vorschein, eine künstlerisch sehr grenzwertige Angelegenheit, die später mit der pragmatischen Liebe zur Mutter des stummen Kindes überdeckt werden soll.
Aber die Freude über das Kind währt nur kurz, denn das Kind stellt die Kommunikation ein und die Mutter unterbindet schließlich den Kontakt, sei es aus Selbstschutz, sei es aus Rache für ein triviales Leben.

In unserem letzten Gemeinsamen Jahr hättest du längst mit dem Sprechen beginnen sollen. (42)

Als der Vater das letzte Foto macht, ist das Kind etwa vier Jahre alt, die Familie hat sich längst in stumm-wütende Fragmente aufgelöst. Am Ende einer solchen Dramaturgie steht in der Literatur immer der Tod, der Erzähler identifiziert die Tote, macht sich jede Menge Vorwürfe über nichts und gegen alles und begibt sich in psychiatrische Behandlung.
In einem Nachspann schreibt der Psychiater an das stumme Kind, dass der Vater ziemlich gelitten hat und mit der Welt nicht zurechtgekommen ist.

Raoul Schrotts Erzählung über eine gescheiterte Vater-Rolle besticht vor allem durch den endgültigen, beinahe tragischen Ton, mit dem eine Rollenerwartung als unlösbar beschrieben wird. Der Erzähler verliert sich vom Ende her immer mehr in Ausweglosigkeit, jeder Gedankenansatz endet an der Stummheit des angeflehten Kindes.

Erzähltheoretisch interessant ist der persuasive Zugang zur Wirklichkeit, etwas gilt dann als fix, wenn es mit Worten fixiert worden ist. So ist auch der beinahe biblische erste Satz zu verstehen: „Erzählenswert ist wohl nur Wirkliches. Um dir die Wahrheit sagen zu können, muss ich Zeugnis alles Falschen ablegen.“ (7) – Eine spannende und intellektuell-poetisch anspruchsvolle Aufgabe.

Raoul Schrott, Das schweigende Kind. Erzählung.
München: Hanser 2012. 198 Seiten. EUR 17,90. ISBN 978-3-446-23864-0.

 

Weiterführende Links:
Hanser-Verlag: Raoul Schrott, Das schweigende Kind
Wikipedia: Raoul Schrott



Helmuth Schönauer, 28-03-2012

Bibliographie

AutorIn

Raoul Schrott

Buchtitel

Das schweigende Kind

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Hanser-Verlag

Seitenzahl

198

Preis in EUR

17,90

ISBN

978-3-446-23864-0

Kurzbiographie AutorIn

Raoul Schrott, geb. 1964 in Landeck, lebt in Innsbruck.