Selim Özdogan, Wieso Heimat, ich wohne zur Miete

Vorurteile, Halbwahrheiten und falsche Bilder im Umgang zwischen Türken und Deutschen lassen sich in einer Welt voller politischer Correctness nur schwer darstellen. Spätestens seit sich eine türkische Majestät von einem deutschen Satiriker so beleidigt fühlt, dass dieser vor Gericht muss, überlegt man es sich als Schriftsteller dreimal, was man schreiben darf und was nicht.

Selim Özdogan stellt diesen oft unterschiedlichen Zugang zum Alltagsleben in beiden Kulturen in Frage. „Wieso Heimat, ich wohne doch zur Miete“ bringt es schon als Formulierung auf den Punkt, Heimat, Kultur, Identität sind immer auch Geschäftsangelegenheiten. Wenn du wo dazu gehören willst, musst du Miete zahlen. Diese seltsamen Fragestellungen sind überhaupt der Kniff, um Tabus und ähnliche Sperrriegel zu umschiffen.

Wenn du etwas über den Wald lernen möchtest, fragst du dann den Baum oder die Vögel? (35)

Letztlich kommt es auf die Fragestellung an, was herauskommen soll. Im Roman wimmelt es nur so von Ironie, gespielter Naivität und bewussten Missverständnissen. So hält jemand die Hymnosomnie für eine schwere Krankheit, dabei handelt es sich nur um das Einschlafen beim Erklingen einer Hymne.

Der äußere Ablauf des Kultur-Movies entspricht einer klassischen Abenteuerfahrt. Der Held Krischna Mustafa ist das Ergebnis einer späten Hippy-Zeugung. Auf dem Weg nach Indien kommen sich ein Türke und eine Deutsche so nahe, dass sie im Schatten eines Puddings ein Kind zeugen müssen. Mit dem Pudding-Shop ist selbstverständlich ein Laden mit diversen Drogen gemeint.

Krischna Mustafa ist perfekt zweisprachig und bi-kulturell. Als er in Freiburg eine Beziehungskrise mit seiner Freundin ausfasst, bricht er nach Istanbul auf, um sich neu zu formatieren und die eigene Identität zu überprüfen. Dieser Stereo-Blick aus zwei Welten ermöglicht es ihm, die Dinge beinahe zum Greifen plastisch zu sehen. Dabei tauchen durchaus kühne Thesen auf, so etwa haben Araber vielleicht deshalb oft so wenig Selbstbewusstsein, weil sie alle Mohammed oder Ali heißen und daher Massenware ohne Persönlichkeit sein müssen.

Die Staatsgewalt tritt am liebsten in den drei Aggregatszuständen fest (Knüppel), flüssig (Wasserwerfer) und gasförmig (Tränengas) auf. In Deutschland braucht man vor allem ein Mülltrenn-Diplom, ehe man anerkannt wird. Eine ganze Oper voller schräger Phrasen und verkleideter Absichten türmt sich in der Folge um den Helden auf, ehe er dann wieder nach Deutschland reist, wo ihm prompt der Pass abgenommen wird. Er hat durch den Istanbul-Aufenthalt offensichtlich seine Identität verloren.

Selim Özdogan erzählt erfrischend frech, intellektuell auf der Höhe und mit einem Kern unverrückbarer Humanität vom Bemühen zweier kultureller Ameisenvölker, den jeweiligen Haufen täglich umzukrempeln um die Brut am Leben zu halten.

Selim Özdogan, Wieso Heimat, ich wohne zur Miete. Roman
Innsbruck: Haymon 2016, 245 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-7099-7238-0

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Selim Özdogan, Wieso Heimat, ich wohne zur Miete
Wikipedia: Selim Özdogan

 

Helmuth Schönauer, 26-04-2016

Bibliographie

AutorIn

Selim Özdogan

Buchtitel

Wieso Heimat, ich wohne zur Miete

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

245

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7099-7238-0

Kurzbiographie AutorIn

Selim Özdogan, geb. 1971, lebt in Köln.