Selina Holešinsky, Schaltiere am Waldboden

h.schoenauer - 13.01.2025

selina holesinsky, schaltiere am waldbodenEin Dorf ist in der Fiktion ein gern gesehener Ort, um darin Idylle, Schrecken, Wokeness oder Klimaschutz in Szene zu setzen. Mit Wimmelbildern der Kindheit wird dieser Ort gerne als analoge Wunderwelt dargestellt, worin sich die erwachsen gewordenen Kinder später einmal zurückziehen werden. Die Wirklichkeit ist freilich auch in Romanen alles andere als eine heile Welt.

Selina Holešinsky zeigt im Roman „Schaltiere am Waldboden“ die heranwachsende Antonie, im elterlichen Kosenamen Marillchen genannt, wie sie zwischen Mutti und Vati im Aussteigerdorf „Autofrei“ groß werden muss. Das Gesellschaftsleben oszilliert zwischen intellektueller Idylle, Sektenideologie und haptisch erfahrbarem Bilderbuchgefühl. Die Ich-Erzählerin nimmt die Welt wörtlich und einmalig, wie es alle Heranwachsenden tun müssen, die zu sich selbst keine alternativen Erfahrungen sammeln können.

Die ideale Welt besteht aus drei Kanten, an der einen sitzt ein Altes Haus und verströmt Geschichte als Gemütlichkeit, an der anderen tut sich ein Acker auf für die Ernährung, und an der dritten Kante sitzt ein Wald, in dem sich hervorragend meditieren oder exzessiv abfeiern lässt.

Vati ist Dorfvorsteher und arbeitet täglich an einem Update für Aussteiger, Klimawandel und grüne Ideologie. Zur täglichen Post gehört das Auswerten eines Beschwerdebriefkastens, im Sinne eines klassischen Parteisekretärs oder Evangelisten wird dabei die Welt mit der Ideologie kompatibel gemacht.

Später wird sich Vati enttäuscht von diesem ideologischen Luftgebilde zurückziehen, indem er für einen kurzen Augenblick aus sich herausspringt und die Tochter haptisch umarmt. Mutti wird vom einzigen Auto, das ins Dorf durchkommt, angefahren und verletzt. Sie weigert sich zu genesen und verschwindet von der Bildfläche. Später taucht sie regelmäßig im Augenwinkel der Tochter auf, aber sobald diese den Blick nachschärft, ist sie schon wieder verschwunden.

Mit dem Erwachsenwerden der Heldin reift auch das Musterdorf und entwickelt eine ernüchternde Realität. Während Vati ununterbrochen die Werbetrommel rührt, dass ständig neue Touristen ins Dorf kommen, um den Lebensstandard zu sichern, kaufen sich manche Zugezogene die Immobilien und übernehmen allmählich das Dorf als Zweitwohnsitz. Die Einheimischen werden heruntergemacht wie schlechtes Zirkuspersonal, das seine Nummern mit Widerwillen spielt.

Ein wütender Junge mischt das Dorf auf, indem er bei einem Gänsemassaker durch den Fuchs eine seltsame Rolle spielt. Später wird man ihn als Bösewicht enttarnen und alle Schuld am Scheitern des Modellversuchs zuschieben. Der Bösewicht hat es nämlich gewagt, eine Außensicht ins Spiel zu bringen und die ganze Inszenierung in Frage zu stellen.

Je mehr der Tourismus zunimmt, umso heftiger werden auch die Orgien im nahen Wald, die jeweils als Fressorgien enden. Die ausgeschlürften Schalen der Krustentiere liegen anderntags am Waldboden und geben so dem Roman seinen Namen. Antonie baut sich aus den Schalen eine Endzeitwelt zusammen, worin Fossilien für die Nachwelt gespeichert sind. Schon jetzt lassen sich aus den Ablagerungen der Gesellschaft interessante Schlüsse auf die Struktur des Lebens ziehen.

Der Roman beeindruckt mit seinem künstlich-kindlichen Erzählstandpunkt, worin die Heldin alles auf sich einströmen lässt und jegliche Ideologie zu einem bloßen Einzelbild wird. So etwa dürften ganze Generationen von diversen Bildungssystemen heimgesucht werden, egal ob rechts, links, grün oder religiös geprägt. Wie andernorts Tiktok auf „Endgeräten“ die Jugendlichen heimsuchen, rauschen hier Bilder von Gänsen, Kühen, Fahrrädern und Schulklassen in umgebauten Ställen über die Jugendlichen hinweg.

Die Leidtragenden der Ideologien sind immer die Eltern selbst, die vermeintlich ihre Probleme lösen, indem sie diese auf die Kids überstülpen. Mutti verschwindet in Krankheit und Depression, Vati in Aktionismus, der letztlich das Dorf zerstört.

Trotz aller theoretischer Aufklärung gelingt es den Bewohnern nämlich nicht, in Frieden ihren Lebensplan abzuarbeiten. Die Zugezogenen zerstören die einst so kompakte Hegemonie von einheimischen Aussteigern.

Wenn man aus dem Roman eine Lehre formulieren müsste: Aussteigen gelingt nicht, solange die übrige Welt mit ihrer Kapitalmacht in alle Leerplätze der Alternativen hineinschwappt.

Und Dorfentwicklern sei gesagt, gegen den Zustrom von Geld-mächtigen Anlegern ist kein Kraut gewachsen, sie bringen nämlich auch eine hedonistische Wochenendkultur mit sich, indem sie im Wald fressen und saufen wie einst in der Steinzeit und die Spuren des Buffets im Wald verstreuen für künftige Archäologen.

Selina Holešinsky hat einen unterhaltsamen Aussteigerroman geschrieben, ohne Belehrung und Arroganz, er erspart einem den einen oder anderen sinnlosen Wochenendausflug hinaus ins Grüne, um darin blau zu werden.

Selina Holešinsky, Schaltiere am Waldboden. Roman
Wien: Picus Verlag 2024, 184 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-7117-2152-5

 

Weiterführender Link:
Picus Verlag: Selina Holešinsky, Schaltiere am Waldboden

 

Helmuth Schönauer, 12-09-2024

Bibliographie
Autor/Autorin:
Selina Holešinsky
Buchtitel:
Schaltiere am Waldboden
Erscheinungsort:
Wien
Erscheinungsjahr:
2024
Verlag:
Picus Verlag
Seitenzahl:
184
Preis in EUR:
22,00
ISBN:
978-3-7117-2152-5
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Selina Holešinsky, geb. 1991 in Grafendorf in der Weststeiermark, lebt in Wien.