Sepp Mall, Berliner Zimmer

Manchmal wird ein unverwechselbares Arrangement an Orten festgemacht. Neben bekannten Speisen, die sich nach einer Stadt nennen und dadurch in aller Munde sind, gibt es auch architektonische Feinheiten wie etwa den spanischen Balkon.

Was aber hat es nun mit Berliner Zimmer in Ein- und Mehrzahl auf sich?

Sepp Mall stellt in „Berliner Zimmer“ einen Erinnerungszustand dar, worin die Zeit aufgehoben wird für eine zweite Chance, etwas Wichtiges noch einmal in die Hand zu nehmen. Auf der sichtbaren Ebene des Romans stirbt der Vater des Erzählers, gerade als er vom Sohn routinemäßig aus dem Krankenhaus abgeholt werden soll. Die Hinterbliebenen reagieren hektisch, überfordert oder mechanisch.

Die Mutter des erzählenden Lehrers Johannes verstärkt ihren dementen Zugang zur Welt, der Bruder Gregor flüchtet sich in parteipolitische Geschäftigkeit und die Enkelin Alma des Verstorbenen fragt, ob er im Krieg auch jemanden erschossen hat.

Während äußerlich durch sittsame Rituale unterstützt die Trauerarbeit scheinbar wie gewöhnlich abläuft, beginnen sich die Hinterbliebenen jeweils in ihrer eigenen Art vom Vater zu verabschieden.

Der politische Bruder ist völlig perplex, als er den Verstorbenen an seiner Tür klingeln hört, die Mutter lässt brisante Papiere aus der Kriegszeit verschwinden und der Erzähler nützt die Chance eines Berlin-Kongresses, die Spur zu einer Frau aufzunehmen, die während des Krieges vielleicht die Geliebte des Verstorbenen gewesen ist.

Im Berliner Zimmer des Erzählers laufen plötzlich alle Fäden der Zeit zusammen. Die Tochter liest am Telefon einen Schulaufsatz vor, während der Erzähler abtaucht in eine plastische Erinnerung. Plötzlich ist Vater noch einmal zum Verabschieden da, zusammen mit der Freundin aus längst vergangener Zeit gelingt ein Eintauchen in eine Biographie, die letztlich rund wird. Der Erzähler bringt es zuwege, den Vater vom Vatersein zu entlassen.

Dabei geht es immer wieder um die Frage, wie wahr die erinnerten Bilder sind.

„Es gab Dinge, die man nie mehr zurechtbiegen konnte.“ (57)

In Berlin kauft sich der Erzähler auch ein Schreibheft und erklärt so nebenher den Sinn des Schreibens, nämlich „etwas zu verdoppeln oder zu spiegeln, das erregte mich“. (103)

Nach dem Berlinaufenthalt, bei dem vielleicht alles nachgeholt wird, was man für jemand anderen nachholen kann, kehrt die Trauergruppe wieder in den Alltag zurück. Noch auf der Passhöhe nimmt der eine wieder seine politischen Geschäfte auf, während der andere stumm seine Schwägerin betrachtet, die ihm kurzfristig aus einer sexuellen Notlage geholfen hat.

Berliner Zimmer ist ein zurückgenommener Roman über Trauerarbeit, über das Bemühen um eine brauchbare Erinnerung, über die gerechte Rollenverteilung über die Generationen hinaus. Sepp Mall bricht nichts übers Knie, den Wunden des Lebens wird Zeit gegeben, nach dem Tod zu heilen. – Eine tröstende und im Guten endende Lebensansicht.

Sepp Mall, Berliner Zimmer. Roman.
Innsbruck: Haymon 2012. 188 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-3-85218-721-1.

 

Weiterführende Links:
Haymon-Verlag: Sepp Mall, Berliner Zimmer
Wikipedia: Sepp Mall

 

Helmuth Schönauer, 01-02-2012

Bibliographie

AutorIn

Sepp Mall

Buchtitel

Berliner Zimmer

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Haymon-Verlag

Seitenzahl

188

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-85218-721-1

Kurzbiographie AutorIn

Sepp Mall, geb. 1955 in Graun, lebt in Meran.