Thomas Sautner, Pavillon 44

h.schoenauer - 21.02.2025

thomas sautner, pavillon 44In der Bezirksstadt Gmünd klettert am Friedhof ein Nackter auf das Dach des Mausoleums und wartet auf seine Abführung. Die freiwillige Feuerwehr breitet zur Vorsicht das Sprungtuch aus, aber der Held lässt sich manuell retten und wird nach Wien in die Psychiatrie gebracht, wo alsbald die Diagnose fällt: „Der Nackte am Friedhof war irr.“ (23)

Thomas Sautner schickt im Roman „Pavillon 44“ seine Helden an die Kante ihrer jeweiligen Welt und lässt sie dann über die Klinge der Erkenntnis springen. Diese drei Welten sind: Roman, Psychiatrie, Politik.

Wenn jemand von einer Welt in die andere wechselt, wird aus einem Koryphäen bald einmal ein Irrer. Als Systemwechsler treten auf: Dimsch, der Nackte vom Friedhof, der in Wien Held des Pavillon 44 wird, Primar Siegfried Lobell, der Leiter von Projekt 44, der prompt ins Delirium verfällt, als er seine Medikamente selbst absetzt, und die Schriftstellerin Aliza Berg, bereits aus dem Roman „Die Erfindung der Welt“ (2021) bekannt, die ein Porträt über den Primar schreiben will und sich im Gästepavillon einweisen lässt.

Der Roman spielt um und im Pavillion 44, in dem zur besten Zeit ihres Lebens zwanzig Personen untergebracht sind, sieben davon auf gerichtliche Einweisung.

Als Erzähl-Achse ist die vage Perspektive der Schriftstellerin gedacht, die manchmal aus einer subjektiven Ich-Form heraus berichtet, dann wieder eine Notiz verfasst für späteres Ausformulieren, in der Hauptsache aber von den Geschehnissen bis zur Unkenntlichkeit der Wahrnehmung überrollt wird. So geschieht ihr in Trance-ähnlichem Schreibzustand ein Geschlechtsverkehr mit einem billigen Turnusarzt, von dem sie später nicht mehr sagen kann, ob sie ihn sich erschrieben oder erwünscht hat.

Im Pavillon dominieren längst die Geschichten der Insassen die Handlung, Es sind erstaunlich kluge Methoden im Umlauf, sich die Welt zu erklären.

So wird das Verhalten der Vögel im Garten mit der Dramaturgie diverser Theaterstücke gedeutet, die „Räuber“ von Schiller lassen sich mit hüpfenden Vögeln darstellen, wenn man ihnen echte Namen gibt, wie etwa Franz für den Ober-Räuber.

Nach der gleichen Methode sind historische Vorgänge gewürdigt, der Euthanasie-Arzt Heinrich Gross, der nach dem Krieg die sozialdemokratische Moral mit seinen braunen Flecken eingefärbt hat, bleibt den Genossen Wiens in voller Primar-Pose in Erinnerung.

Überhaupt merkt die einquartierte Biographin, dass ihr die Figuren ähnlich entgleiten, wie dem Primar seine Patienten.

Die Vormittagsvisiten laufen nach dem Muster von Kabarett-Stücken ab, jeder erzählt, was er sich über Nacht ausgedacht hat. Und die Gegenfragen fallen durchaus offenherzig aus: Na, heute schon an Selbstmord gedacht? (107)

Ost- und Westflügel unterscheiden sich vor allem im Geruch, aus einem Teil tritt mehr Darm-Odeur in den Vordergrund, im anderen gewinnt die süßlich Schwere von Theaterutensilien die Oberhand.

Von der Psychiatrie wird erwartet, dass sie Menschen rasch wieder funktionstüchtig macht. Und sei es, dass sie zum Suizid fähig werden. (127)

Der Wunder-Wuzzi Lobell hat allerdings einen Gegenspieler in Gestalt des Anti-Primars Thaler. Und niemand am Gelände kann sagen, wer eigentlich recht hat.

In einem Ausgehversuch schickt Lobell seine Parade-Patienten Dimsch und Jesus in die Innenstadt, damit sie dort die Welt erkunden wie Touristen auf der Suche nach dem verrückten Wien. Sie grasen professionell diverse Cafés und Sehenswürdigkeiten ab und stellen verblüfft fest, dass das sprachliche Inventar aus der Anstalt durchaus geeignet ist, in der Öffentlichkeit der Innenstadt zu bestehen. Der Pavillon 44 bewährt sich als geschützte Werkstatt zum Einüben der City.

Lobell gibt vor, seine beiden Musterpatienten in der Innenstadt zu suchen, in Wirklichkeit trifft er sich endlich einmal mit seinem Jugendfreund Kraut, dem Wiener Bürgermeister, zum Betrinken. Dieser regiert die Stadt mit illuminiertem Blick, was auch den Primar beeindruckt und zum Satz hinreißen lässt: Die Psychiatrie ist die Kunst, die Welt heil zu sehen. Das heilt auch den Beobachter.

Am Abend kehren alle ziemlich betrunken auf ihre Baumgartner Höhe zurück, wie das Ziel am Bus aufgemalt ist. Der Fahrer ist für solche Heimfahrten bestens gerüstet mit der Parole: Er werde nach Zeit und nicht nach Kilometern bezahlt.

In einem kurzen zweiten Teil versucht der Roman, in eine Art Normalität überzuleiten, in welcher die Figuren scheinbar eine realistische Zukunft haben. Die Autorin bringt eine Biographie zustande, die Insassen werden entlassen, der Primar setzt seine Medikamente ab und fällt ins Koma, zumindest kommt ihm das so vor.

Die geheilten Figuren gehen über in eine Danksagung, wer aller beim Roman Pate gestanden und für das Gelingen von „Pavillon 44“ Sorge getragen hat. Diese Bedankten gelten ebenfalls als geheilt, wie übrigens auch der Autor, der den Roman überstanden hat, und die Leser, die ironisch aufgerüstet den Herausforderungen der Realität ins Auge sehen.

Thomas Sautner erzählt mit Hingabe von den Defekten seiner Helden aus der Psycho-Menagerie. Die zustimmende Begeisterung für das Treiben der Figuren schält feine Menschenseelen frei, die an manchen Tagen ein wenig unruhig zu ticken beginnen. Dadurch sind sie freundliche Verwandte von uns Lesern.

Thomas Sautner, Pavillon 44. Roman
Wien: Picus Verlag 2024, 450 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-7117-2149-5

 

Weiterführende Links:
Picus Verlag: Thomas Sautner, Pavillon 44
Wikipedia: Thomas Sautner

 

Helmuth Schönauer, 25-09-2024

Bibliographie
AutorIn:
Thomas Sautner
Buchtitel:
Pavillon 44
Erscheinungsort:
Wien
Erscheinungsjahr:
2024
Verlag:
Picus Verlag
Seitenzahl:
450
Preis in EUR:
26,00
ISBN:
978-3-7117-2149-5
Kurzbiographie AutorIn:
Thomas Sautner, geb. 1970 in Gmünd, lebt im Waldviertel.