Hans Platzgumer, Korridorwelt

Ein Korridor gilt in Tirol als etwas besonders Exklusives und Wertvolles, Jahrzehntelang sind beispielsweise die Osttiroler mit einem Korridorzug unter Ausschluss der Realität von Lienz nach Innsbruck gefahren, ehe man dem Zug seinen Korridor-Charakter genommen hat.

In Hans Platzgumers „Korridorwelt“ ist ähnlich exklusiv wie bei den Osttirolern eine eigene Welt gemeint, die sich nur dem Korridorbewohner erschließt. Der Held Julian Ogert nämlich lebt in Amerika eine Zeitlang als Straßenmusikant in einer eigenen Welt. In Los Angeles ist dieser Held für eine gewisse Zeit zur Ruhe gekommen und stellt fest, dass man einen Fluchtpunkt ständig verlegen muss, sonst ist es keiner mehr. (101)

Der Held durchläuft im Roman eine Zeit zwischen dem sechzehnten und sechsundzwanzigsten Lebensjahr, dabei wird er von zwei Elementarereignissen durchgeschüttelt. Als Sechzehnjähriger entdeckt er in der Linzer Wohnung seine Eltern im Wohnzimmer, wie sie ruhig aufgehängt von der Zimmerdecke hängen. Julian merkt sich genau die Kleidungsstücke und Posen, die die Eltern umwehen, er merkt sich ein Leben lang die Zeile aus dem Abschiedsbrief des Vaters: "Eines Tages wirst du verstehen." (46)

Die zweite Erschütterung ist das Erdbeben von Los Angeles, worin sich Julian schon die längste Zeit als Straßenmusiker herumtreibt. Beide Vibrationen treiben die Erinnerung voran, denn in Echtzeit gibt es nur die Musik, die sich wieder in Luft auflöst, nachdem sie gespielt worden ist.

Diese leere musikalische Gegenwart wird gefüttert mit der Aufbruchs-Story, als Julian nach dem Suizid seiner Eltern verstört mit der Bundesbahn nach Wien fährt und ins AKH eingewiesen wird.

Für mich war Linz ein Fehlstart. […] Ich war jung genug, um an einen Neuanfang zu glauben.

Jede Erinnerung an Linz wird zudem überlagert vom Roadmovie der Musik, das Julian mit Oneway-Tickets nach Hamburg, New York und an die Westküste hinter sich bringt. Jeder Aufenthalt gleicht dabei einem Leben im Korridor, denn nur in kleinen Portionen greift die Realität auf den streunenden Musikanten zu. Dabei kommt es zu kulturellen Kleinodien, wenn etwa ein Mexikaner nicht begreifen kann, dass die Europäer nie die Länge ihres Schwanzes nachmessen sondern diesen einfach benützen, egal wie lang er auch ist.

Nach dem Erdbeben in L.A. flüchten die Menschen so gut sie können aus der Stadt, auch Julian macht sich wieder auf den Weg und landet schließlich in einer chilenischen Bergbaustadt, immer im Korridor, immer von der eigenen Musik umgeben. Das Ende taucht als Daumen auf, der versucht, ein Auto anzuhalten für Santiago de Chile.

Hans Platzgumer erzählt recht beeindruckend von der Überlebenskunst on the road, diese Kunst ist immer frisch, weil sie jeden Tag neu entwickelt werden muss. Das Leben in der Korridorwelt ist also nichts für ein Archiv und schon gar nicht für einen Vorlass geeignet.

Hans Platzgumer, Korridorwelt. Roman.
Hamburg: Edition Nautilus 2014. 223 Seiten. EUR 20,50. ISBN 978-3-89401-786-6.

 

Weiterführende Links:
Edition Nautilus: Hans Platzgumer, Korridorwelt
Wikipedia: Hans Platzgumer

 

Helmuth Schönauer, 24-05-2014

Bibliographie

AutorIn

Hans Platzgumer

Buchtitel

Korridorwelt

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Edition Nautilus

Seitenzahl

223

Preis in EUR

20,50

ISBN

978-3-89401-786-6

Kurzbiographie AutorIn

Hans Platzgumer, geb. 1969 in Innsbruck, ist Musiker, Komponist und Schriftsteller.