Carl Norac, Im Land der verlorenen Erinnerung

„Zuerst war nur eine weiße Leere in meinem Kopf. Leer und weiß wie ein Blatt Papier, auf das man zeichnen möchte. Oder wie die Wolken, die sich kaum bewegen. In der Mitte meines Gehirns ist etwas Schweres, an dem die Gedanken abprallen.“ (6)

Die Anfangsszene erleben wir wie in einer Filmsequenz aus dem Blickwinkel einer von Kopf bis Fuß einbandagierte Person: zunächst ein weißes Bild und allmählich immer schärfer werdend ein Bett, Bettlacken und eine einbandgierte Hand; dann aus der Vogelperspektive den Helden der Geschichte, der Ich-Erzähler, der Rousseau genannt wird und gerade sein Hand betrachtet.

Die handelnden Figuren der Geschichte sind aufrecht gehende und bekleidete Hunde und Katzen, die sich im Umfeld der 30-iger, 40-iger Jahre des 20. Jahrhunderts in einer düsteren und bedrohlichen Welt bewegen.

Der Ich-Erzähler, dessen Gesicht von Bandagen bedeckt wird, hat bei einem Sprengstoffanschlag sein Gedächtnis verloren und weiß nicht einmal, wer er selbst ist. Er wird von einem Polizisten verhört, der seine Geldtasche gefunden hat, ihn Rousseau nennt und ihm erklärt, dass er ein Hund sei, während es sich bei den Katzen um Terroristen handle.

Red nur! Aus irgendeinem Grund bin ich davon überzeugt, dass ich keiner Fliege etwas zuleide tun würde. Ich könnte jeden abknallen, der das Gegenteil behauptet. (14)

Als Rousseau sich zu der Adresse begibt, die man ihm zugesteckt hat, geht er durch eine düstere Stadt voll Gewalt, Hoffnungslosigkeit, Misstrauen und Armut.

Die ganze Stadt ist ein Gefängnis, eingeschlossen von diesen Mauern ohne Türen. (22)

Zu Hause angekommen, entdeckt er alte Fotos aus vergangenen Zeiten und einen toten Kanarienvogel, den er aus dem Käfig nimmt und schließlich verspeist. Plötzlich ist die Luft erfüllt von Schüssen und er beobachtet einen Nachbarn, der wie ein Vogel seine Arme ausbreitet und aus dem Fenster springt.

Auf der Straße begegnet Rousseau einem Einhorn, das ihn berührt und seinen Körper zum Leuchten bringt. Und plötzlich entsteht in ihm die Vorstellung, auserwählt zu sein, um die düstere Welt zu befreien. Eine Welt in der Träume verboten sind und in der Traumkiller jedes Leuchten von Träumen in einer Katze erkennen und diese gnadenlos erschießen. Den Träumen werden Fernsehbilder entgegen gesetzt, welche die erlaubte Wirklichkeit wiedergeben.

Rousseau wird von einem Fährmann mit Insel der Seligen geführt, wo ihm sein Vater vom Krieg erzählt und von der Hoffnungslosigkeit, die Welt ohne Gewalt zu verändern. Als er wieder zurück kehrt, rettet ihm das Einhorn das Leben und überträgt im Sterben seine Kraft auf Rousseau, eine Kraft, die selbst Waffen zum Schmelzen bringt.

In Stéphane Poulin und Carl Noracs Bilderepos einer düsteren, von Gewalt und Hass geprägten Welt verschwimmen Wirklichkeit und Fantasy zu einem düsteren Abgesang auf die Welt der Träume und Hoffnungen. Anspielungen auf unsere eigene Gegenwart, vermischen sich mit Gewaltszenarien einer aus den Fugen geratenen Welt und mythischen Szenen. Der Held befindet sich auf der Suche nach seiner Identität und nach seinem Sinn, den er im Streben nach Freiheit entdeckt.

Eine überaus komplexe, mit Symbolen durchtränkte Parabel über die Macht der Fantasie über alle Widerstände hinweg. Das letzte Bild des "Comic-Noir" ist eine Hommage an Tennessee Williams berühmtes Theaterstück „Endstation Sehnsucht“.

Carl Norac, Im Land der verlorenen Erinnerung. Ill. v. Stéphane Poulin, übers. v.
Edmund Jacoby, ab 16 Jahren
Berlin: Verlag Jacoby & Stuart 2011, 128 Seiten, 24,70 €, ISBN 987-3-941787-49-0

 

Weiterführende Links:



Andreas Markt-Huter, 29-03-2012

Bibliographie

AutorIn

Carl Norac

Buchtitel

Im Land der verlorenen Erinnerun

Originaltitel

Au pays de la mémoire blanche

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Jacoby & Stuart

Illustration

Stéphane Poulin

Übersetzung

Edmund Jacoby

Seitenzahl

128

Preis in EUR

24,70

ISBN

987-3-941787-49-0

Lesealter

Zielgruppe

Kurzbiographie AutorIn

Carl Norac wurde im belgischen Mons geboren und hat als Französischlehrer, Drehbuchautor und Journalist gearbeitet, bevor er mit dem Schreiben von Kinderbüchern, Theaterstücken und Lyrik begann. Wenn er nicht gerade um die Welt reist, lebt er in Orléans, an der Loire.<br /> Stéphane Poulin wurde in Montréal geboren. Er ist einer der bekanntesten franko-kanadischen Künstler. Seine Bilderbücher und Graphic Novels sind vielfach ausgezeichnet worden.