Pressespiegel: Literatur-Nobelpreis für Elfriede Jelinek

Eine Auswahl an Pressemeldungen über das literarische Top-Ereignis des Jahres: Die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Elfriede Jelinek.

 

 

Die Geistesgegenwärtige: Elfriede Jelinek gewinnt den Literatur-Nobelpreis

Die Verleihung des Literaturnobelpreises an eine innenpolitisch solcherart geächtete Künstlerin gibt der langjährigen Debatte um die Legitimität "unpatriotischer" Kunst nun eine neue Bedeutung: Elfriede Jelinek steht, als Weltkünstlerin, Weltliteratin, spätestens jetzt nicht mehr allein da. Vielleicht wird auch jenen, die das bisher nicht sehen wollten oder konnten, nun deutlich, wie sehr die Entwicklung der Arbeit dieser Schriftstellerin eine Geschichte des Eigensinns ist. Jelinek sei sprachbesessen wie Karl Kraus, zynisch wie Thomas Bernhard und Österreich-fixiert wie Nestroy: Die alten Vergleiche, wie sie derzeit wieder überall zu hören sind, passen Jelinek nicht, sind ihr nicht angemessen. Diese Autorin ist längst schon, auch wenn sie sich auf Hans Lebert und Georges Bataille beruft, ihre eigene Kategorie.
Profil, Nr. 42/04

Kommentar: Ein Preis der Widerständigen

Jelinek ist wahrscheinlich die schwierigste Schriftstellerin im deutschen Sprachraum, sicher aber im österreichischen Kontext. Die Männer eingeschlossen. Für all jene, die im Sinne der "Kostenwahrheit" und der "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" fürs Denken nichts mehr zahlen wollen und fürs Lesen schon gar nicht, ist dieses literarische Werk zu kompliziert, vielleicht auch zu bedrohlich. Man muss zuhören, man muss sich darauf einlassen, und man muss die "sprachliche Leidenschaft" Elfriede Jelineks genießen können. Vor allem ihre Dramen sind Erlebnisse im Sinne der Bernhardschen "Verstörung".
Gerfried Sperl, Der Standard, 7.10.2004
Die Dompteuse der wilden Worte

Elfriede Jelinek ist eine radikale Künstlerin. Radikal bis zur Schonungslosigkeit. Sie hat es den Lesern, dem Theaterpublikum, aber vor allem sich selbst nie leicht gemacht. Denn sie belästigt uns gnadenlos und ausdauernd mit den Segmenten unseres Lebens, die wir gerne unter die Fleckerlteppiche der Anständigkeit und der verlogenen Harmonisierung schaufeln.
Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 8.10.2004
Die Macht der Sprache

Elfriede Jelinek ist eine Sprachartistin, die politisch handelt. Weil sie mit Österreich nicht zu Rande kommt, attackiert sie mit aller Sprachkraft ihr Land, von dem sie sagt, dass es "eigentlich nur Aggressionen hervorrufen kann". Mit Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein und Ödön von Horváth teilt sie die Einsicht, dass die Sprache das Instrument ist, mit deren Hilfe Politik gemacht wird. Und so schlägt sie zu, indem sie ästhetisch verbrämt, was ihr unter den Nägeln brennt.
Anton Thuswaldner, Salzburger Nachrichten, 8.10.2004
Verstörendes Glück

Jelineks schon vielfach preisgekröntes Werk wirkt vordergründig oft obszön, ist tatsächlich jedoch radikal moralisch. Ihre Literatur ist radikal weiblich und feministisch, radikal politisch und radikal österreichisch - weil sie nicht daran denkt, sich mit den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu arrangieren; weil sie sich nie damit begnügt, Symptome des Herrschaftlichen zu schildern, sondern nach den Wurzeln gräbt.
Irene Heisz, Tiroler Tageszeitung, Seite 2.
Dunkles Herz Europas

Elfriede Jelinek ist Feministin geheißen worden, und sie hat doch den Frauen so ins eigene Fleisch geschnitten wie keine andere. Sie war bis Anfang der neunziger Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs; ihre politische Stoßkraft richtet sie auf das Prinzip der Territorialisiserung: Machtausübung schlimmster Form ist für sie Besetzung von Raum, Durchdringung und Verletzung von Grenzen, des Leibes, des anderen, des Volkes.
Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.2004.
Die Textflächenfrau

Die Jelinek, die die patriarchalische Kultur immer wieder kritisiert, weil die Frauen keinen Ort haben in ihr und sich nur als "Gegenbilder definieren können", bediente (gern) Vorurteile und schuf (gern) Klischees. Sie erfand dafür die absonderlichsten, kalauerigen Sprachbilder. In Raststätte gibt es eine Frauen-Äußerung, die ebenso rätselhaft wie missglückt ist: "Ich will verschmutzt werden! Ich will auf dem Nest eines schnellen Bodenbrüters laut schreien!". C.Bernd Sucher, Die Süddeutsche Zeitung, 7.10.2004

Die Opfertäterin

Und dann für eine Wiener Autorin, die als Lieblingsfeindin der österreichischen Rechten manchen auch stark verkeilt in eine austriakisch-alpenländische Hinter-Männer-Welt erscheint - so, als sei Elfriede Jelinek auf der internationalen Literaturszene nur ein hochbegabter und häufig skandalisierter Spezialfall.

Diese Einschätzung, die sich vor allem in der deutschen Literatur- und Theaterkritik teils als kniefällige, hymnische Vorwärtsverteidigung der Autorin, teils als sarkastisches Ressentiment gegenüber Jelinek entlädt, übersieht: dass Elfriede Jelinek immer über die größten Weltthemen geschrieben hat - über Krieg und Frieden in der Familie und zwischen Mann und Frau, über Sex, Gewalt und Tod. Auch wenn das (wie fast alle Weltliteratur) häufig im österreichisch Provinziellen angesiedelt ist, erzählt Jelinek doch, mit Canetti gesprochen, von der "Provinz des Menschen".
Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 8.10.2004.

"Inszenierung ihrer selbst"

Und ihre Feindschaft zu Österreich und Deutschland. Dass sie, wie sie mitteilen ließ, im Nobelpreis für sich nichts sehe, was "als Blume im Knopfloch für Österreich" gelten könne, zeigt, dass sie in diesem Land, in dem sie noch immer lebt, keine Heimat findet, im Gegenteil, sie lebt dort in einem Material.

Obschon das Nobelpreiskomitee betont, dass man nicht berücksichtigt habe, dass Jelinek "eine Frau ist", weiß Jelinek, dass ihr der Preis in den Augen der Öffentlichkeit als solcher verliehen wird. Sie wird weiter gegen diese Öffentlichkeit anschreiben müssen, obschon immer sichtbarer wird, dass sie weiß, dass sich diese nicht durch ihre Werke ändern werden wird. Dennoch kämpft sie."
Jörg Sundermeier, Die Tageszeitung, 8.10.2004 

Die Kraftkammer des Abscheus

Zur Heimatdichterin - und was für einer! - ist Elfriede Jelinek spätestens avanciert, als sie ihren grossen Roman «Die Kinder der Toten» (1995) in dieser trauten Landschaft ansiedelte. Der Roman ist Gothic Novel und düstere Parabel. Er nimmt das Wort von den Leichen im Keller wörtlich. Auf den Opfern der Geschichte hat Österreich seine zweite Republik gebaut. «Die Kinder der Toten» ist ein Schauerroman, der noch das trivialste seiner Details auf diese Wahrheit verpflichtet. Vielleicht hat auch diese anhaltende literarische Proklamation die Schwedische Akademie überzeugt. Kaum ein österreichischer Schriftsteller hat so unbeirrbar auf seinem ästhetischen Experiment beharrt wie Elfriede Jelinek. Ihre Texte sind unbändig. Das Schreiben ein Gewaltakt, das Lesen auch.
Paul Jandl, Neue Züricher Zeitung, 8.10.2004

Ostracised critic of Austrias Nazi past wins Nobel Prize

The author, who is the first Austrian and the 10th woman to win literatures highest accolade, is best known for her 1983 autobiographical novel The Piano Teacher, filmed in 2001.

However, she has also gained a reputation as a ruthless social critic and for her savage indictments of Austrias failure to confront its Nazi past. She has more recently been vociferous in her opposition to the rise of politician extremism in her homeland and the far-right politician Jörg Haider. "She is an author who shatters the convictions of her readers with anger and passion," said Per Wastberg, spokesman for the Swedish Academy. "Above all, she has criticised Austrias consumer society, which has not faced up to its own past.
Tony Paterson, Independent 8.10.2004.

Zornige Bühnenkämpferin

Das Nobelpreiskomitee hat in diesem Jahr eine mutige Entscheidung getroffen, denn außerhalb des deutschen Sprachraums ist Elfriede Jelinek so gut wie unbekannt. Den Grund kennt die Autorin selbst: Ich weiß nicht, ob meine Sprache überhaupt übersetzbar ist - das ist ein gemeinsames Problem meiner Texte. Mein Buch konnte nicht einmal ins Niederländische übersetzt werden, das auf den ersten Blick dem Deutschen sehr ähnlich ist.

Publizist Per Wästberg, der Sprecher der Jury, hat die Vergabe an Elfriede Jelinek als wunderbar bezeichnet. "Sie ist eine Autorin, die mit ihrem Zorn und mit Leidenschaft ihre Leser in den Grundfesten erschüttert." Da werden selbst die ärgsten Jelinek-Kritiker nicht widersprechen.
Peter Mohr, Titel Magazin, 7.10.2004.

 


Weiterführende Links:
Der Standard: Pressespiegel Literatur-Nobelpreis für Elfriede Jelinek
Der Standard: Interview mit Elfriede Jelinek

 

Zusammenstellung: Andreas Markt-Huter, 08-10-2004

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