Die Tiroler Lesekompetenz: Leseschwachen Kindern kann geholfen werden. Teil 2

Seit Weihnachten 2004 gibt es in Tirol die Einrichtung "Tiroler Lesekompetenz" mit dem Ziel, Hilfestellungen für Schülerinnen und Schüler im Bereich "Lesen" anzubieten.  Lesen in Tirol hat die Lehrerinnen der "Tiroler Lesekompetenz" besucht. Im ersten Teil des Interviews wurde über die Aufgaben und die Auswirkungen der PISA-Studie auf den Bereich des Lesens in den Schulen gesprochen. 

Lesen in Tirol hat die Lehrerinnen der "Tiroler Lesekompetenz" am 10. Mai 2005 in der Lernwerkstatt in der Reichenau in Innsbruck besucht und mit ihnen über ihre Aufgaben, ihre Arbeit und ihre bisherigen Erfahrungen gesprochen:

 

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Im zweiten Teil des Interviews kommen die konkrete Arbeit und die bisherigen Erfahrungen an den Schulen zur Sprache.

 

Lesen in Tirol: Seit der Einrichtung der Lesekompetenz sind mittlerweile knapp vier Monate vergangen. Wie fällt eine erste Bilanz aus?

Margit Zimmermann: Diese ersten Monate waren meines Erachtens eine Orientierungsphase. Wir sind zu Beginn ein wenig im Dunkeln getappt und haben erst herausfinden müssen, wo die Bedürfnisse und die Defizite liegen und welche Hilfe die LehrerInnen und SchülerInnen wirklich benötigen. Jetzt entwickeln wir konkrete Vorstellungen, welche Hilfsangebote notwendig und sinnvoll sind.

Ich denke, dass der Zeitpunkt gekommen ist, wo sich alle Beteiligten noch einmal neu zusammensetzen sollten, um neu zu reflektieren, wie das Leseförderungsangebot weiter gehen und die nächsten Schritte konkret aussehen sollen. Wir müssen uns die Frage stellen, was war gut, welche Arbeit hat etwas Positives gebracht und was nicht. Zu Beginn sind wir vor allem in die Schulen gegangen. Jetzt sind wir dabei, mit unseren bisherigen Erfahrungen, unserer ganzen Arbeit noch mehr Struktur zu geben, um gezieltere Angebote aufstellen zu können. Dies sind im Augenblick die Ziele, die wir uns für die nächste Zeit gesetzt haben.

Lesen in Tirol: Die Einrichtung passt also ihr Angebot laufend an den Bedarf an?

Christiane Wanner: Wir haben unsere Arbeit ja bereits zu Beginn selbst definiert, indem wir einen bestimmten Bedarf an den Schulen zunächst einfach annehmen mussten. Wir konnten zu Beginn ja nicht wissen, sondern nur annehmen, welchen Bedarf, d.h. welche Hilfestellung am dringendsten benötigt werden würde. Jetzt sind wir in der Lage von den konkreten Bedürfnissen auszugehen und dieser Nachfrage gerecht zu werden.

Margit Zimmermann: Für mich persönlich hat sich mittlerweile herauskristallisiert, dass sich die Leseförderung in den 3. oder 4. Klassen der Volksschulen eigentlich als nicht mehr zielführend erweist. Wenn wirklich etwas mit Leseförderung bewegt werden soll, muss bei den Anfängern gearbeitet werden. In der ersten Klasse haben die SchülerInnen Zeit, in den ganzen Schulprozess einzusteigen und das System kennen zu lernen.

In der zweiten Klasse weiß aber grundsätzlich jeder Lehrer bereits, wo die Defizite der einzelnen SchülerInnen liegen. Der Schwerpunkt der Leseförderung müsste daher auf die zweite Klasse gelegt werden. In der Realität fordern die Lehrer eine konkrete Hilfe meist erst in der vierten Klasse an, zu einem Zeitpunkt also wo die Auffälligkeiten bereits offensichtlich sind.

Christiane Wanner: Wenn es gelingt bereits gegen Ende der 2. Klasse bei den Schülern die Diagnose zu stellen und zu klären, wo die Leseprobleme des Kindes liegen und wenn die Lehrperson während der gesamten dritten Klasse an dem Problem arbeiten kann, dann sind die Aussichten recht gut, die Defizite bis in die vierte Klasse aufzuholen.

Karin Summerauer: Wir haben bisher verschiedene Dienstleistungen angeboten, wie die Durchführung des SLS an den Schulen, das Erstellen von Einzeldiagnosen bei auffälligen Kindern, die Betreuung dieser Kinder und die Fortbildung innerhalb der Schule sowie unsere Teilnahme an Elternabenden. In Bezug auf die Betreuung einzelner Kinder waren wir uns von Anfang an bewusst, dass wir dieses Angebot nur bei einer geringen Nachfrage aufrecht erhalten können.


Karin Summerauer: Die Nachfrage nach einer  Einzelbetreuung ist so stark, dass wir sie im Grunde nicht mehr abdecken können. Foto: Markt-Huter

 

Mittlerweile hat die Nachfrage nach einer Einzelbetreuung aber bereits so stark zugenommen, dass wir sie im Grunde nicht mehr abdecken können. Ich führe derzeit zwar noch begonnene Einzelbetreuungen an Schulen weiter, muss aber Neuanfragen bereits zurückweisen. Für die Zukunft hat sich uns gezeigt, dass nur mehr eine gelegentliche Hilfestellung aber keine Einzelbetreuung von Kinder mehr möglich sein kann, solange wir nicht personell verstärkt werden, das heißt, dass wir für jeden Bezirk eine Leselehrerin benötigen würden.

Lesen in Tirol: Wie schaut eine Beratungsstunde an den Schulen konkret aus.

Christiane Wanner: Zunächst einmal zum SLS, das an vielen Schulen bereits durchgeführt wurde. Dabei baten eine Reihe von Direktoren, das SLS von jemand Externem durchführen zu lassen - vor allem um bei gleichen Voraussetzungen einen objektiven Vergleich zwischen den einzelnen Klassen zu gewährleisten. Wo an Schulen das SLS selbst durchgeführt worden ist, haben sich die LehrerInnen bei uns gemeldet, bei denen Kinder unter einem bestimmten Lesequotienten gelegen sind.

Unsere Aufgabe bestand nun darin, die SchülerInnen in Hinblick auf ihre Leseschwäche genauer zu untersuchen, wobei wir verschiedene Methoden anwenden. Ich selbst verwende den Salzburger Lese- Rechtschreibtest und schaue mir die Kinder mit Hilfe des Leseteils dieses Tests näher an.

Margit Zimmermann: Ich habe für mich die Methode von Wedel-Wolff ein wenig abgeändert, also für mich angepasst, Bei dieser Methode lässt man das Kind einen Text vorlesen, nimmt das ganz auf Tonband auf und transkribiert das gesprochene Wort. Mit einer gewissen Übung und Routine lässt sich das Problem dann relativ schnell entdecken. Es gibt die schlampigen Leser, die sehr rasch über die Texte hinweg lesen, es gibt aber auch Leser, welche die Laute der einzelnen Buchstaben eines Wortes erst zusammenfügen müssen. Man erkennt dann sehr rasch, bei welchen Buchstaben die Kinder noch Fehler machen u.s.w.

Karin Summerauer: Die Beratungstätigkeit sieht bei mir folgendermaßen aus: Die Anmeldungen für einen Besuch erfolgen zunächst online. Ich schaue mir den Bedarf den die jeweilig Schule anmeldet gut an, um mich auf den Besuch an der Schule auch entsprechend vorzubereiten. Entweder führe ich dann das SLS durch oder - wenn es bereits durchgeführt wurde ? erstelle ich bei den leseschwachen Kindern eine Diagnose nach der Wedel-Wolff-Methode. Das ganze lässt sich meist an einem Tag bewerkstelligen. Wenn ich eine Schule zum erstenmal besuche, führe ich zunächst immer mit dem Direktor oder der Direktorin ein Gespräch, d.h. ich stelle mich vor und biete an, mich auch dem Lehrkörper vorzustellen. Dies ist wichtig, damit die LehrerInnen eine konkrete Person mit der Lesekompetenzlehrerin verbinden können. Als nächsten Schritt vereinbare ich mit dem Direktor oder den Lehrern von denen ich angefordert worden bin, einen weiteren Termin und erläutere die weitere Vorgehensweise.

Außerdem gebe ich ihnen das Ansuchen für die Eltern mit, in dem nachgefragt wird, ob sie mit einer Betreuung ihres Kindes einverstanden sind. Mit ihrer Unterschrift verpflichten sich die Eltern, das tägliche Lesetraining mit ihren Kindern zu absolvieren. Als Begleitblatt erhalten die Eltern eine kurze Beschreibung unserer Arbeit. Die Kinder werden dann wöchentlich betreut, wobei ich für jedes Kind eine Lesemappe angelegt habe, in der ich die jeweiligen Lesedefizite festhalte und die Arbeitsblätter und

Arbeitsmaterialien auflege, mit denen die Kinder zu Hause üben sollen.
Grundsätzlich möchte ich sagen, dass jene LehrerInnen, die uns anfordern, schon zu den engagierten LehrerInnen gehören, die offen sind und es nicht ablehnen, dass von Schülern ihrer Klasse eine Diagnose erstellt wird. Hier verläuft normalerweise auch die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus durchwegs positiv, weil an diesen Schulen meist eine positive Schulpartnerschaft zum Wohle des Kindes gelebt wird.

Christiane Wanner: Wir sind uns bewusst, dass wir nur wenige Klassen besuchen und nur mit wenigen Kindern arbeiten können und es vielmehr Kinder gibt, die schlecht lesen. Jene Lehrpersonen die uns anfordern, finden sich nicht einfach damit ab, dass eine bestimmte Anzahl an SchülerInnen schlecht lesen kann und nehmen dies nicht als unabänderlich hin. Sie haben bereits ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass es wichtig ist, Kindern mit Leseproblemen konkrete Hilfen zu geben. Als unsere Aufgabe erachte ich auch, das Bewusstsein bei LehrerInnen zu wecken, damit sie sich verantwortlich fühlen, wenn bei SchülerInnen Leseschwierigkeiten auftreten.


Margit Zimmermann: Viele Lehrerinnen und Lehrer, denen unser Angebot unbekannt war, zeigten sich erfreut und positiv überrascht. Foto: Markt-Huter

 

Margit Zimmermann: Ich musste die Erfahrung machen, dass unser Angebot noch nicht allen LehrerInnen bekannt ist. Von einigen LehrerInnen kommt immer noch die Reaktion: Was, das gibt es, das ist ja super, wo kann man euch anfordern? Es ist noch nicht bis in die letzte Ecke des Landes vorgedrungen, dass es uns gibt und dass jeder unser Angebot anfordern kann.

Lesen in Tirol: Welche Rolle wird der LehrerInnenfortbildung für den Bereich Leseförderung zugemessen?

Karin Summerauer: Für mich persönlich war es überraschend, dass unser Angebot der LehrerInnenfortbildung so wenig angenommen wurde. Hier hatte ich gehofft, würde das Echo bei den LehrerInnen größer sein, weil so die Multiplikatoren für den Bereich der Leseförderung entstehen könnten. Es wäre sehr wichtig, dass die LehrerInnen diese Fortbildungsangebote viel mehr annehmen würden. Nur so lässt sich mit der Zeit ein Netz von lesekompetenten LehrerInnen aufbauen und die Nachfrage nach Hilfestellungen an den einzelnen Schulen auch abdecken. Weiters könnten die LehrerInnen auch bei der Herstellung von Lermaterialien unterstützt und der richtige Umgang damit geübt werden. Wer die Materialien nämlich nur einmal gesehen hat, weiß nicht, wie sie anzuwenden sind und welchen Sinn sie haben.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass es sehr mühsam ist, sich in diese Materie einzuarbeiten. Wir mussten selbst zahlreiche Fachliteratur lesen und daneben Lernspiele entwickeln. Das alles ist natürlich für Lehrer besonders anstrengend, die nebenbei noch unterrichten. Daher wüschen sich die meisten LehrerInnen von uns eine Einzelbetreuung ihrer jeweiligen SchülerInnen, was natürlich sehr praktisch wäre, weil damit die eigene Verantwortung abgegeben werden könnte. Aber das lässt sich mit der steigenden Zahl der Anmeldungen einfach nicht mehr bewältigen.

Christiane Wanner: Ich denke nicht, dass die LehrerInnenfortbildung wenig angenommen wird. Ich halte viele Fortbildungen, die auch sehr gut angenommen werden! Und insgesamt sind die Tiroler L. doch recht fortbildungsfreudig, würde ich sagen - Ausnahmen gibt es natürlich!

Margit Zimmermann: Mir schwebt vor, in Zukunft vor allem die Lehrerfortbildung zu forcieren. Unsere zentrale Aufgabe muss es sein, die Lehrer zu betreuen, um ihnen so viel Bewusstsein für das Lesen zu vermitteln, dass sie den Kindern selbständig Hilfe bieten können. Wir wollen ihnen selbstverständlich weiterhin Hilfestellungen und Lernmaterialien geben, vor allem aber möchten wir ihnen das richtige Handwerkszeug und die richtige Ausbildung für die Leseförderung anbieten.

Lesen in Tirol: Fühlen sich manche Schulen und LehrerInnen durch eure Einrichtung bevormundet oder kontrolliert?

Christiane Wanner: Grundsätzlich glaube ich das nicht: Die LehrerInnen haben uns ja freiwillig um Hilfestellung gebeten. Wenn sich LehrerInnen bevormundet und kontrolliert fühlen, denke ich, hat das mit der Art zu tun, wie unsere Schule funktioniert. In sehr vielen Ländern ist eine Testkultur etwas ganz Selbstverständliches. Bei uns hingegen sind es LehrerInnen überhaupt nicht gewöhnt, dass jemand von außen in ihrer Klasse irgend eine Form von Überprüfung vornimmt.

Überspitzt formuliert würde ich sagen, dass lediglich bei der praktischen Fahrradprüfung die Gendarmerie oder Polizei geduldet wird. Die theoretische Prüfung in der Klasse führt schon wieder der Lehrer selbst durch. Ich möchte damit sagen, dass in Österreich die LehrerInnen einfach nicht gewöhnt sind, dass irgendetwas in ihrem Verantwortungsbereich geprüft wird oder nach außen dringt. Diese Tradition schreckt sicherlich sehr viele LehrerInnen davon ab, unser Angebot anzufordern. Dabei scheint mir das ganze vor allem ein typisches Phänomen für Volksschulen zu sein. Ich habe lange Zeit auch an einer Hauptschule unterrichtet und kenne daher die Unterschiede bei der Arbeit zwischen Volks- und Hauptschule aus eigener Erfahrung.


Christiane Wanner: Ich glaube nicht, dass sich LehrerInnen von uns bevormundet fühlen. Foto: Markt-Huter

 

Durch die Verantwortlichkeit der Koordinatoren für die Hauptfächer muss in der ersten Klasse für eine gewisse Zeit gleich gearbeitet werden, um eine Einstufung in die Leistungsgruppen vornehmen zu können. Dadurch konnte sich bei den Lehrern eine Kultur der Zusammenarbeit entwickeln, wodurch sie die Kinder vergleichen können.
Dagegen gibt es im Volksschulbereich viele Schulen mit nur einer Klasse. Hier fällt sogar der Vergleich mit einer Parallelklasse weg. Unterrichte ich jetzt 10, 20, oder gar 40 Jahre allein in meiner Klasse, bin ich bereits so isoliert, dass mir jeglicher Blick dafür fehlt, wie mein Unterricht im Vergleich mit anderen aussieht und was anders gemacht werden könnte.

Karin Summerauer: Für uns ist es im Bereich des Lesens daher wichtig, dass das Lesescreening dreimal im Jahr durchgeführt wird. Es gibt in der zweiten Klasse eine Überprüfung am Anfang, in der Mitte und am Ende des Schuljahres. Die Überprüfung sollte ganz selbstverständlich und regelmäßig durchgeführt werden, um die LehrerInnen daran zu gewöhnen sich zu orientieren, wo ihre SchülerInnen stehen, welche Erfolge erzielt werden konnten und wenn Hilfe benötigt wird, diese auch anzufordern.

 

 

Andreas Markt-Huter, 10-05-2005

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