Die Tiroler Lesekompetenz: Leseschwachen Kindern kann geholfen werden. Teil 3

Im dritten Teil des Interviews mit den Lehrerinnen der "Tiroler Lesekompetenz" stehen die Erfahrungen mit der Durchführung des "Salzburger-Lese-Screenings" im Mittelpunkt, das seit Frühjahr 2005 verpflichtend an allen österreichischen Volksschulen durchgeführt wird. Ein Vergleich mit dem "Lesenlernen in früheren Zeiten" mit der Gegenwart und ein kurzes Resümee ihrer bisherigen Arbeiten schließen das Interview ab.

Lesen in Tirol hat die Lehrerinnen der "Tiroler Lesekompetenz" am 10. Mai 2005 in der Lernwerkstatt in der Reichenau in Innsbruck besucht und mit ihnen über ihre Aufgaben, ihre Arbeit und ihre bisherigen Erfahrungen gesprochen:

 

* * * * *

 

Auch im dritten und letzten Teil des Interviews kommen die konkrete Arbeit und die bisherigen Erfahrungen an den Schulen zur Sprache.

 

Lesen in Tirol: Welche Erfahrungen konnten Sie bisher bei der Durchführung des Salzburger-Lese-Screenings (SLS) gewinnen?

Christiane Wanner: Als wir unser Angebot zur Leseförderung entwickelt haben, wussten wir noch nicht, dass das SLS so schnell verpflichtend werden würde. Das hat sicherlich sehr viele Lehrer verunsichert?

Karin Summerauer: Es ist meiner Ansicht nach sehr problematisch, dass die Klassenlehrer das SLS selbst durchführen. Das sollte auf alle Fälle von jemand Außenstehendem gemacht werden.

Christiane Wanner: Ich habe z.B. von einigen freigestellten DirektorInnen das Angebot erhalten, dass sie bereit wären, das SLS selbst in ihrer Schule durchzuführen, um allen Klassen die gleichen Testbedingung bieten zu können. Es gibt aber auch DirektorInnen die unterrichten und trotzdem das SLS lieber selbst durchführen.

Karin Summerauer: Wir haben beim SLS bereits ganz offensichtlich manipulierte Ergebnisse erhalten. Von vielen Lehrern wird die Bewertungsskala des Tests dabei völlig falsch interpretiert. Sie setzen die Bewertungsstufen von 1 bis 7 dabei häufig mit dem schulische Notensystem gleich. Die "Stufe 1 sehr gut" lässt sich aber nur von einer ganz geringen Anzahl an hochbegabten SchülerInnen erreichen. Die "Stufe 2 gut" beschreibt immer noch eine wirklich außergewöhnliche Leistung, SchülerInnen die in die "Stufe 3 überdurchschnittlich" fällen, zählen immer noch zu den ganz tollen Lesern. Die Punktezahl für die Stufe 4 ergibt sich schließlich aus dem Durchschnitt aller sieben Bewertungsstufen und stellt den durchschnittlichen Leser dar.

Bei den abgegebenen Ergebnissen des SLS kam es kurioserweise vor, dass die Ergebnisse in einer Klasse plötzlich 7 Leser der Stufe 1 und 3 Lesern der Stufe 2 ausweisen. Dies passiert ganz offensichtlich nur deshalb, weil ihre Lehrer die Bewertungsstufen mit den Schulnoten gleichgesetzt haben. Da wurde schon mal die Zeit zum Lesen von 3 auf 5 Minuten verlängert oder vorher Probelesetests verteilt u.a. um solche Ergebnisse zu erzielen.

Christiane Wanner: Die Dummheit bei solchen Manipulationen liegt vor allem darin, dass übersehen wird, dass die Tests so ausgelegt sind, dass der Normpunkt, der bei 100 liegt, so ausgelegt ist, dass er die durchschnittlichen SchülerInnen beschreiben soll, bei denen die Punktezahl zwischen 90 - 110 liegt. Liegt der Leistungsdurchschnitt einer Klasse in diesem Bereich, scheint zunächst einmal alles in Ordnung. Liegt aber der Klassendurchschnitt bereits bei gut oder gar sehr gut und kein Kind liegt mehr im Durchschnitt, ist das ganze einfach nicht möglich. Ich gehe aber davon aus, dass ca. 80% der Testergebnisse aussagekräftig sind, vor allem, wenn die Lehrer die Ergebnisse für sich und nach außen hin auch begründen können.

Es ist einfach ein Unterschied, ob ich eine Klassen mit vielleicht nur zehn Kindern und ohne Ausländerkind unterrichte oder eine Klasse mit 28 SchülerInnen mit sieben oder acht Kindern mit schlechten Deutschkenntnissen oder mit Kindern aus problematischen sozialen Verhältnissen, bei denen der Wortschatz manchmal so klein ist, dass bereits das Wort "Erdbeere" Verständnisprobleme aufwirft. Dass hier schlechtere Ergebnisse zu erwarten sind, ist leicht verständlich und erklärbar.


Karin Summerauer: Das Salzburger-Lese-Screening sollte
idealer Weise von externen Personen durchgeführt werden.
Foto: Markt-Huter

 

Karin Summerauer: Es hat sich wirklich gezeigt, dass sich das SLS eigentlich nur als aussagekräftig erweist, wenn sie von einer externen Person durchgeführt wird oder von einem Direktor, der nicht an einer Klasse unterrichtet.

Christiane Wanner: Im Zusammenhang mit dem SLS konnte ich die Erfahrung machen, dass sich manche Kinder freuen, wenn jemand von außen kommt und andere wiederum ganz nervös sind, weil ihnen vielleicht schon Tage vorher mitgeteilt wurde, dass sie getestet werden.

Lesen in Tirol: Was gilt es im Bereich der Leseförderung an den Volksschulen vor allem zu berücksichtigen?

Christiane Wanner: Ganz wichtig erscheint mir, das SLS in der 2. Klasse bereits in der zweiten oder dritten Schulwoche durchzuführen. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich eine hervorragende Aussage über die Lesekompetenz der SchülerInnen treffen. Es gibt Kinder, die in den Sommerferien zwischen der 1. und 2. Klasse zu Hause viel lesen und bereits als recht gute Leser in die 2. Klasse kommen. Viele Kinder werden aber auch sehr wenig oder gar nicht gefördert und vergessen während dieser Zeit mitunter sogar Buchstaben. Im Lehrplan steht, dass die Kinder bis zum Ende der 2. Schulstufe Zeit haben, das Lesen zu lernen.

Ich empfehle aber allen Lehrern, bereits zu Beginn der 2. Schulstufe festzustellen, auf welchem Stand sich die einzelnen Kinder befinden. Es ist wichtig bereits jetzt zu erkennen, welche Kinder eine gezielte Leseförderung brauchen. Je länger mit der Förderung gewartet wird, desto größer wird der Abstand zu den anderen SchülerInnen. Den bestehenden Rückstand aufzuholen wird damit immer schwerer. Außerdem entsteht bei nicht rechtzeitiger Förderung für die SchülerInnen das Problem, dass womöglich vor lauter Leseschwierigkeiten noch ein Mathematikproblem oder überhaupt ein Schulfrust entsteht.

Margit Zimmermann: Ich würde mir wünschen, wenn flächendeckend in allen 2. Klassen eine Förderung angeboten werden könnte, denn am Ende der zweiten Klasse sollte der Leselernprozess für alle Kinder wirklich abgeschlossen sein. Aber nicht deshalb, weil es im Lehrplan so vorgesehen ist, sondern weil die Kinder das Lesenlernen in dieser Schulstufe reell vollziehen können. Dazu müsste für jeden Bezirk mindestens eine Lesekompetenzlehrerin zur Verfügung stehen.

Ein anderes Anliegen wäre es, alle Lehrer der 2. Klassen zu einem Treffen einzuladen, um ihnen zu vermitteln, dass unsere Einrichtung keine Kontrollaufgaben ausübt sondern ausschließlich eine Hilfestellung für das Lesenlernen bietet. Das ganze ist grundsätzlich als Fortbildungsnachmittag für das Lesen gedacht, wo die Lehrer auch über die einzelnen Formen von Lesefehlern bei Kindern informiert werden sollen, wovon bisher nur besonders engagierte Lehrer Kenntnisse haben. Außerdem sollten z.B. Nachmittage organisiert werden, an denen Lehrmaterialien produziert werden, die dann den einzelnen Schulen zur Verfügung stehen.

Christiane Wanner: Von Seiten des Ministeriums geht die Tendenz dahin, Kinder mit sprachlichen Problemen bereits vor der Schule ausfindig zu machen. Das scheint vernünftig, vor allem wenn ein Kind besonders große sprachliche Defizite aufweist. Beim Salzburger Lesetest müssen Kinder z.B. häufige Wörter lesen. Dazu wird vorher immer ein Probeblatt gelesen, wo u.a. auch das Wort Besen vorkommt. Liest z.B. ein Kind statt dem Wort "Besen" "Bessen", weiß ich genau, dass es den Sinn des Wortes "Besen" nicht verstanden hat. Es sind aber nicht nur Ausländerkinder, die bei ganz vielen Wörtern ein so großes sprachliches Defizit ausweisen.

Um Lesen zu lernen, sind 12.000 - 14.000 Stunden aktive Kommunikation mit den Kindern nötig, das sind mehr als 5 Stunden aktive Kommunikation täglich! Nicht alle Kinder aber erhalten diese Zeit! Die fehlende Zeit und Kommunikation zwischen Eltern und Kindern wirkt sich selbstverständlich auch auf das Lesen aus. Es zeigt sich, wie notwendig es ist, den Eltern die Wichtigkeit ins Bewusstsein zu bringen, die der Beschäftigung mit Büchern, Texten oder mit der Sprache überhaupt zukommt. Das heißt aber auch, mit den Kindern reden und sie reden zu lassen. Bei den Eltern dieses Bewusstsein zu schaffen, müsste bereits im Kindergarten erfolgen.


Christiane Wanner: Fehlende Kommunikation zwischen
Eltern und Kindern wirkt sich auf die Lesekompetenz aus.
Foto: Markt-Huter

 

Margit Zimmermann: Bereits im Kindergarten entsteht oft eine große Schere, weil heute sehr viele Kinder in ihrem Elternhaus sprachlich extrem gefördert werden. Kinder aus einem sehr engagierten Elternhaus weisen bereits einen großen sprachlichen Wortschatz auf. Auf der anderen Seite finden wir Kinder, die sprachlich vollkommen verarmt sind.

Christiane Wanner: Es hat in den letzten Jahrzehnten eine interessante Entwicklung gegeben. Vor 40-50 Jahren befanden sich die Kinder, die in die Schule kamen, auf einem relativ einheitlichen Niveau. Heute kommen sie mit derart unterschiedlichen Voraussetzungen, dass der Unterschied bei den einzuschulenden Kindern bis zu vier Jahren betragen kann. D.h. es kommen Kinder in eine Klasse, deren Level von 4-8-jährigen reicht, womit der einzelne Lehrer erst zurechtkommen muss. Zusätzlich gibt es noch Kinder die kein Deutsch sprechen, oder Kinder, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf benötigen u.a. Bei einer Klassenzahl von vielleicht 24 Kindern, kann man sich vorstellen, wie schwierig es ist, allen Kindern im Leseunterricht gerecht zu werden, so dass sie das Lesen dann auch wirklich beherrschen.

Die Herausforderung an die Lehrerin oder den Lehrer ist offensichtlich und wahrscheinlich viel größer als früher. Wenn heute oft gesagt wird: "Früher konnten alle Schüler lesen", dann stellt außerdem die Frage, was unter "Lesenkönnen" zu verstehen ist, was früher beim Lesen geprüft worden ist: Heute bedeutet "Lesenkönnen" nicht mehr, einen Text lediglich mehr oder weniger fließend vorlesen zu können.

Lesen in Tirol: In einem Erlass des Bundesministeriums wird die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Öffentlichen Bibliotheken und den Schulen angesprochen. Welche Rolle können Öffentliche Bibliotheken bei der Leseförderung spielen?

Christiane Wanner: Es kommt darauf an, wie die Bücherei betreut wird und wie die Zusammenarbeit mit den Schulen funktioniert. Es gehört sicherlich zu den Aufgaben der LehrerInnen den Kindern die Schwellenangst vor einem Besuch in einer Bücherei zu nehmen. Nicht alle Kinder haben Eltern, die mit ihnen eine Öffentliche Bücherei besuchen und nur die wenigsten Volksschulkinder trauen sich eine Bücherei zu betreten, in der sie noch nie waren.

Karin Summerauer: In Landeck z.B. ist die Städtische Bücherei im Schulhaus untergebracht. Die Bücherei ist mit der derzeitigen Büchereileiterin regelrecht aufgeblüht. Sie arbeitet eng mit allen LehrerInnen zusammen und die Kinder haben die Möglichkeit, die Bücherei jederzeit zu besuchen. Hier bestehen sicherlich optimale Voraussetzungen, zumal sich in dieser Bücherei jemand sehr engagiert und das Angebot für Kinder offen gestaltet. Wenn es dann noch LehrerInnen gibt, die mit den SchülerInnen die Bücherei besuchen, scheint mir das ganze ideal zu sein.

Es gibt hingegen auch Büchereien, wo Kinder gar nicht gerne gesehen werden. Da heißt es, sie könnten mit Büchern nicht richtig umgehen oder würden die Bücher gar kaputt machen. In viele Schulen bestehen aber auch  gut sortierte Schulbüchereien, deren Bestand für Volksschüler meiner Ansicht nach ausreichend sein müsste.

Christiane Wanner: Es gibt aber auch zahlreiche Schulen deren Lesestoff für Volksschüler bereits doch sehr veraltet ist und oft nicht Kindern entspricht. Auch wie die Schulbücherei aufgebaut und ausgestattet ist, unterscheidet sich sehr von Schule zu Schule. Ich denke schon, dass die Öffentliche Bücherei vor allem in den Bereichen eine wichtige Aufgabe übernehmen könnte, wo die Schulbücherei nicht so gut ausgestattet ist. Dies kommt vor allem in zahlreichen kleinen Schulen häufig vor, wo ein geringes Budget eine geringe Buchauswahl nach sich zieht. Diese Schulbüchereien können Kindern nicht gerecht werden, die wirklich gerne lesen, weil einfach der adäquate Lesestoff fehlt.

Es wäre schade, wenn in solchen Fällen die Leselust der Kinder verloren ginge, nur weil keine entsprechenden Bücher vorhanden sind. Es muss aber auch festgehalten werden, dass die Zusammenarbeit zwischen Schulbüchereien und Öffentlichen Büchereien nicht immer und überall so funktioniert, wie sie funktionieren sollte.

Lesen in Tirol: Welches abschließendes Resümee ziehen Sie aus den ersten Monaten ihrer Arbeit als Lesekompetenzlehrerinnen?


Margit Zimmermann: Jedes Kind will wirklich lesen lernen! Foto: Markt-Huter

Margit Zimmermann: Die Herausforderung ist groß. Die Arbeit ist interessant. Vor allem in einem Bereich etwas zu machen, wo im schulischen Bereich bisher eigentlich noch nichts gemacht wurde, ist aufregend. Es bleibt aber der Wunsch, dass Möglichkeiten geschaffen werden, um qualitativ noch besser arbeiten zu können.

Karin Summerauer: Unser Angebot wird immer mehr angenommen. Die Rückmeldungen der Lehrer, Eltern und Kinder sind ausgesprochen positiv. Die Kinder zeigen eine große Freude, wenn wir mit ihnen arbeiten, vor allem weil sie dabei auf einem Niveau arbeiten können, das ihnen angepasst ist. Sie haben daher nicht ständig das Gefühl, überfordert zu sein, sondern erleben, dass sie der Sache gewachsen sind, dass sie es können und schaffen. Das ist der positive Zugang, den man den Kindern eröffnen kann, weil sie im Grunde alle Lesen lernen wollen, trotz aller bisherigen Misserfolge.

Margit Zimmermann: Es stimmt. Was wir vor allem bemerkt haben ist, dass jedes Kind wirklich lesen lernen will. Den Kindern zu sagen: "Wir können es gemeinsam schaffen!" ist daher besonders wichtig.

Christiane Wanner: Zu keiner Zeit, in der Kinder die Schule besuchen, sind sie so motiviert etwas zu erlernen, wie in der ersten Klasse das Lesen. Kaum ein einschulendes Kind nennt "Rechnen", manche "Schreiben", aber fast alle "Lesen", wenn sie gefragt werden, was sie sich von der Schule erwarten, was sie lernen wollen. Das ist für die Kinder ein zentrales Bedürfnis, weil sie auch ganz intuitiv wissen, dass sie damit die Welt der Erwachsenen betreten.

Allein die Möglichkeit ein SMS selbst lesen zu können, wirkt für Kinder unglaublich motivierend. Beim Lesen bemerken Kinder, dass sie diese Kompetenz für sich selbst brauchen können und nicht nur für die Schule. Das ist ihnen bewusst und deshalb wollen sie es lernen.
Hier gab es eine große Veränderung. Vor 20, 30 Jahren wurde Lesen oft nur für die Schule benötigt. In vielen Berufen, konnte man damals ganz gut auch ohne Lesen auskommen.

Karin Summerauer: Wenn es uns gelingt, dass der Leselernprozess für viele Kinder erfolgreich abgeschlossen wird, dann werden sie automatisch zu Lesern, weil sie beim Lesen etwas erleben, was sie fasziniert. Wenn sie Lesen können, erfassen sie den Inhalt eines Buches und lesen es zu Ende. Bücher werden meist nur deshalb nicht gelesen, weil Kinder mit Leseschwierigkeiten den Inhalt nicht verstehen und das Lesen als äußerst mühevoll erlebt wird und sie nicht weiterkommen in einem Buch.

Wer lesen kann, findet schon sein Buch, ob bei der Freundin oder in einer Bücherei. Unsere Aufgabe ist es, darauf zu schauen, dass ein Kind Freude am Lesen hat, weil es lesen kann. Wir geben ihnen jene Instrumente in die Hand, mit denen sie Lesen lernen können.

Lesen in Tirol: Danke für das Interview!

 

 

Andreas Markt-Huter, 10-05-2005

Redaktionsbereiche

Unterricht