Volkmar Mühleis, Tagebuch eines Windreisenden

volkmar mühleis, tagebuch eines windreisendenDer animierende Freund Wind gleicht im Idealfall diverse Druckunterschiede aus, die uns umgeben. An Windtagen genügt es, den Körper still zu halten und die Sinnesorgane aufzumachen, um so aus dem Stand heraus eine Reise zu absolvieren. Der Windreisende ist ständig unterwegs, auch wenn er sich scheinbar nicht bewegt.

Volkmar Mühleis versucht mit dem „Tagebuch eines Windreisenden“ etwas schier Unmögliches, nämlich das Zufällige in den Plan einer Chronik zu bringen und das Mehrdimensionale an die Kette eines stringenten Ablaufs zu legen. Beides geschieht durch das Genre Tagebuch. In sieben Gedankenschritten wird nicht weniger versucht als eine Erdumkreisung zu beschreiben.

Das Tagebuch ist im unverblümten Gebrauch als poetisch-musikalische Aufzeichnung einer konkreten Weltreise gedacht. Dem Ich-Erzähler wird ein Reisestipendium zugesprochen, das ihn nach Auckland bringt, wo er Vorträge hält und mit dem Kunstfreund und wissenschaftlichen Antipoden Jon das Land erkundet, indem er von einer Galerie zur nächsten gleitet.

Auf einer Metaebene werden die einzelnen Begebenheiten freilich so zugehauen, dass daraus ein fertiges Mosaik entsteht, bei dem die Erlebnissteine offenbar immer schon ineinander gepasst haben. Diese Vorgangsweise des Zusammenschleifens von Einzelheiten auf ein Ganzes hin kann als Methode wohl auch für andere Reisen verwendet werden, wenn es gilt, den Flow einer Reiseunternehmung diskret zu beschreiben. Getragen wird die Weltreise vom Wind, auf dem der Flieger ähnlich segelt wie einst die Windjammer unter ihm.

Die sieben Kapitel können auch als sieben Anleitungen und Fragestellungen gelesen werden, mit denen eine Weltreise aufgeschrieben werden kann.

1. Eine große Reise braucht ein „Grundbuch“, das sie begleitet. Im konkreten Fall nimmt der Erzähler das Buch „Allen Curnow, Continuum, New & Later Poems 1972–1988“ aus dem Regal einer Buchhandlung und fragt, wie lange dieses Buch auf ihn gewartet hat. Genau 26 Jahre hat es gedauert, bis dieses Werk auf den erlösenden Käufer gestoßen ist.

Das erste Durchstreifen eines wesentlichen Buches ist gekennzeichnet von Ablenkungen, so bricht bei der Erstlektüre gleich einmal ein Mann zusammen, die Augen schweifen von der Seite ab hinein in die Szenerie der Notfallambulanz. Und einmal abgelenkt schieben sich Erinnerungsfetzen zum Fliegen ins Gesichtsfeld, etwa dass Mutter jahrzehntelang alleine geflogen ist und vor allem den Spalt in Erinnerung hatte, der sich bei jedem Boarding auftut zwischen dem Flugzeug und dem Gate. Durch diesen Spalt zieht der Wind und vermittelt die ersten oder letzten Eindrücke eines Landes.

2. Der Windreisende trifft sich mit dem Kulturmanager Jon und fährt auf die Vogelinsel, die letztlich nur aus Wind besteht. Der kundige Jon zeigt dabei versteckte Buchten und Krümmungen der Landschaft, die fließend überwechseln in das „Continuum“, sodass der Eindruck entsteht, die Landschaft sei nach der poetischen Vorlage des Buches entstanden.

3. Das „Continuum“ lässt sich auch nach der Rückkehr aus New Zealand zu Hause im Winterpullover lesen. Der Flug klingt dabei lange nach wie eine Cello-Suite, dieses Phänomen hat einst Peter Handke (34) mit seinen Bleistiftnotizen beschrieben.

4. Der Flug von Auckland zurück nach Brüssel lässt sich mit assoziativen Übungen verfestigen, indem man etwa die verschiedenen Namen der Winde aufzählt oder diverse Buchanfänge memoriert und überlegt, welcher Wind und welcher Anfang am ehesten passen. Als Jon gefragt wird, wie er zur Kunst gekommen sei, gibt er eine Wind-Antwort, das heißt, er beschreibt seine Bewegungen hin zur Kunst wie ein Kapitän, der ein Fahrzeug mit und gegen den Wind gleich gut steuern muss. Der Erzähler ist überrascht, dass sich diese Erfahrungen auf das Lesen anwenden lassen. Lesen ist nichts Anderes als Steuern im Lesewind.

5. Aus den Einzelheiten ergeben sich zwangsläufig grundsätzliche Fragen, etwa: Was hebt einen über sich selbst hinaus? Die Antwort erfolgt ein paar Seiten später und muss vielleicht gar nicht auf die Frage replizieren, die Erkenntnis lautet jedenfalls: Die Windstille.

6. Beim Abrechnen der Reise bleiben merkwürdige Erinnerungsfragmente über, etwa, dass an manchen Tagen die Vögel das Blaue vom Himmel gesprochen haben.

„Es war eine Amsel, die zwitschernd stenographierte.“ (87)

7. Jede Reise bringt Veränderung mit sich, die sich mit dem Paradoxon andeuten lässt: Was ist Flug? – Vertiefung. (96)

Volkmar Mühleis „erzählt“ dieses Tagebuch als ein Musikstück, in dem Verzögerungen, Rhythmen, Konnotationen und Obertöne angespielt sind, während hinter dem Text der tragende Wind weht. Als Leser stellt man mit Genugtuung fest, dass das Tagebuch eines Windreisenden sein eigenes Grundbuch für diese Reise geworden ist.

Volkmar Mühleis, Tagebuch eines Windreisenden
Wien: Passagen Verlag 2021, 112 Seiten, 12,90 €, ISBN 978-3-7092-0483-2

 

Weiterführende Links:
Passagen Verlag: Volkmar Mühleis, Tagebuch eines Windreisenden
Homepage: Volkmar Mühleis

 

Helmuth Schönauer, 03-12-2021

Bibliographie

AutorIn

Volkmar Mühleis

Buchtitel

Tagebuch eines Windreisenden

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Passagen Verlag

Seitenzahl

112

Preis in EUR

12,90

ISBN

978-3-7092-0483-2

Kurzbiographie AutorIn

Volkmar Mühleis, geb. 1972, lebt in Brüssel.