Waltraud Kannonier-Finster, Eine Hitler-Jugend

Buch-Cover

Es gibt wohl kaum einen historischen Zeitraum der öfter und genauer erforscht worden wäre als die Zeit des Nationalsozialismus.

Ist das Thema bereits ausgereizt und die Zeit gekommen, endgültig einen Schlussstrich unter das ?kurze Intermezzo des Nationalsozialismus in Österreich? zu setzen? Dagegen spricht, dass das Argument von "Österreich, als erstem Opfer Hitler-Deutschlands" häufig immer noch dazu dient, das Verhalten von Österreicherinnen und Österreichern während der NS-Zeit zu verharmlosen. Und auch das offizielle Österreich benötigte ein halbes Jahrhundert, um eine Mitverantwortung für Verbrechen während dieser Zeit einzugestehen.

Das vorliegende Buch macht die Bedeutung der geschichtlichen Verhältnisse und Prozesse am Beispiel der Lebensgeschichte und den Erzählungen einer konkreten Person anschaulich und fassbar. Grundsatz der Studie von Waltraud Kannonier-Finster ist es, die in zahlreichen Interviews wiedergegebene persönliche Lebenserfahrung, jeweils aus den geschichtlichen und sozialen Strukturen der jeweiligen Zeit zu verstehen und zu erklären.

Kannonier-Finster schildert in ihrer soziologischen Fallstudie ?Eine Hitler-Jugend? das Leben von Alois Hauser, der 1925 in der steirischen Landgemeinde Anbach geboren wurde. Er erlebte als Kind die Zeit der 1. Republik, des Ständestaates und schließlich als Jugendlicher die Zeit des Nationalsozialismus. Bald nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich tritt er dem ?Deutschen Jungvolk? bei und wird 1939 Hitler-Junge.

Im Juli 1943 wird der mittlerweile 18jährige zum Kriegseinsatz in die deutsche Wehrmacht eingezogen und recht bald in Jugoslawien in die Grausamkeiten des Partisanenkriegs involviert. Ein Jahr später befindet er sich mit seiner Truppe in Oberitalien, um den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten. Hier gerät er auch im April 1945 in Kriegsgefangenschaft. Während dieser Zeit führte Hauser ein Tagebuch, in dem sein damaliges Denken und Empfindungen dokumentiert wird.

Im August 1945 kehrt Alois Hauser aus der Kriegsgefangenschaft heim und kann bereits ein paar Tage später mit der Arbeit in seinem alten Beruf im Bahnhof in Anbach beginnen. Besteht in den ersten Nachkriegsjahren noch ein politisches Desinteresse, engagiert sich Hauser ab den 50iger Jahren wieder sehr rege am politischen Leben und übernimmt zeitweise sogar sieben Funktionen und Ämter gleichzeitig. Alois Hauser heiratet mit 29 Jahren und wird Vater zweier Mädchen, die 1963 und 1965 zur Welt kommen.

Das Gedenkjahr 1988 anlässlich der 50. Wiederkehr des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich und die ?Affäre Waldheim? führt auch bei Alois Hauser zu einer großen Verunsicherung. Die Erinnerung und die Wiedergabe seiner Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges erfolgte bisher immer in Form von ?abenteuerlichen Anekdoten über Ereignisse, Leistungen, Leiden und Enttäuschungen.

Diese Form der Erinnerung und Erfahrungsbildung, wie sie in der Familie Hauser gepflegt wird, verläuft im Grunde konform mit der Art der kollektiv institutionalisierten Erinnerung zum Nationalsozialismus in Österreich. Die Vermeidung der öffentlichen Thematisierung des Nationalsozialismus in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg, das Verschweigen der besonderen Rolle Österreichs an diesem Geschehen, sind eine Voraussetzung für den Modus der Tradierung des Krieges als persönliches Abenteuer. Davon abweichende Formen der Erinnerung begegnet man in Österreich in diesen Jahren mit Empörung und Abwehr.? (Kannonier-Finster, Eine Hitler-Jugend, S. 154)

Mit den Methoden der Soziologie zeigt Kannonier-Finster exemplarisch anhand des persönlichen Schicksals eines Menschen, der sowohl die Hitler-Jugend als auch den Krieg erlebt, auf, wie stark Empfindungen und Denkweisen aus der Zeit der jugendlichen Sozialisation erhalten bleiben. Es gelingt ihr auf spannende Weise die Methoden der Sozialforschung und den Sinn ihrer Anwendung auch einem nicht wissenschaftlich ausgebildeten Publikum, näher zu bringen. Die Einbeziehung des Einzelschicksals ?Alois Hauser? in das historische Umfeld seines jeweiligen Lebensabschnitts lassen Erkenntnisse zu, die wieder weit über das persönliche Einzelschicksal hinausgehen.

Die Soziologin macht in ihrer Studie weitverbreitete Verhaltens- und Argumentationsmuster einer ganzen Generation sichtbar. In ?Alois Hauser? werden manche Leserinnen und Leser Argumentations- und Verhaltensmuster der eigenen Eltern, Großeltern, Verwandten oder Bekannten wieder zu erkennen glauben.

Die Autorin nimmt aber keine Verurteilungen vor, sondern versucht mit wissenschaftlicher Akribie zu erklären, weshalb die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus gerade in Österreich lange auf sich warten ließ und zu einer so großen Polarisierung in der Wahrnehmung dieser Zeit innerhalb der Gesellschaft und besonders zwischen den Generationen geführt hat.

?Wie Alois Hauser nach 1945 unter den Bedingungen des Wiederaufbaus sein Leben normalisiert, wurde bereits beschrieben. Besonders hervorzuheben ist hier das Moment der Enthistorisierung seiner persönlichen Erfahrungen in Hitler-Jugend und Wehrmacht. Wie lässt sich dieses Phänomen in einem soziologischen Kontext verstehen?

Wenn er von seinen Erfahrungen aus der NS-Zeit erzählt, dann erscheinen diese von dem historischen Wissen über diese Zeit gereinigt und gegenüber  dem größeren Kontext der Kriegsverbrechen und des Massenmordes neutralisiert. Dieser Modus des Erinnerns und Erzählens, der an vielen Zeitzeugen beobachtet werden kann, ist nicht nur als individueller Mangel an Reflexion und kritischer Distanz gegenüber der eigenen Vergangenheit zu verstehen.

Die Vergegenwärtigung lebensgeschichtlicher Erinnerungen ist keine ausschließlich persönliche Angelegenheit. Menschen erinnern nicht als einsame Personen, sondern als soziale Wesen, als Mitglieder ihrer Gesellschaft und ihrer Kultur. Erinnerung ist sozial geformt.? (Kannonier-Finster, Eine Hitler-Jugend, S. 168)

Insgesamt kann das Buch allen, die sich für die Auseinandersetzung in Österreich mit der Zeit des Nationalsozialismus interessieren, nur empfohlen werden.

Waltraud Kannonier-Finster, Eine Hitler-Jugend.
Innsbruck: Studien Verlag 2004, 191 Seiten, EUR 19,00, ISBN: 3-7065-4048-7.

 

Andreas Markt-Huter, 22-12-2004

Bibliographie

AutorIn

Waltraud Kannonier-Finster

Buchtitel

Eine Hitler-Jugend

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2004

Verlag

Studien Verlag

Seitenzahl

191

Preis in EUR

EUR 19,00

ISBN

3-7065-4048-7

Kurzbiographie AutorIn

Waltraud Kannonier-Finster ist Universitätsassistentin am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten sind zu nennen: Qualitative Sozialforschung, Biographieforschung, Studien zur Gedächtniskultur in Österreich nach 1945. In den letzten Jahren: Fallanalysen in sozialpsychiatrischen Feldern und psychosozialen Institutionen im Sinn einer klinischen Soziologie.