Franzobel, Einsteins Hirn

franzobel, einsteins hirnIn Österreich kommen manche erst dann mit Bildung in Kontakt, wenn ihnen bei der Autopsie das Hirn entnommen und die Kopfhöhle mit der Kronenzeitung ausgestopft wird.

Diesen Witz greift Franzobel schelmisch auf, wenn er überlegt, wie man Bildung, Gott und die Welt als Genie-Streich haptisch machen könnte für einen Roman. Der Autor bedient sich dabei der prognostizierenden Faktenmethode, indem er zuerst einen Plot fiktiv entwirft und anschließend die darin vorkommenden Fixpunkte analog abreist, bis daraus eine Art Tatsachenroman formuliert werden kann.

Über dieses handfeste Romangerüst stülpt Franzobel seine Expertise für vertrauenerweckendes Erzählen und entwirft dabei Vorgänge, wie man sie so garantiert noch nie gehört hat.

Dazu dient ihm seine Kenntnis des österreichischen Wort-Barocks und der Dramaturgie des volksnahen Bluttheaters. (Sein dramaturgisches Meisterwerk ist in dieser Hinsicht „Fadinger oder Die Revolution der Hutmacher“.)

Im Roman „Einsteins Hirn“ legt er zwei Biographien aufeinander, die an und für sich ausrecherchiert sind, nämlich die des toten Einsteins und jene seines Pathologen Thomas Harvey, der ihm 1955 dienstlich das Hirn entnimmt und es anschließend vierzig Jahre lang privat nützt.

Die Problemstellung des Romans steht schon in der Einleitung. Gibt es eine Rangordnung bei Problemen? Und ist vielleicht jede Erkenntnis der Unterton zu einer theatralischen Inszenierung?

Am Tag, als Einstein stirbt, soll Harvey eigentlich auf Hochzeitstag machen und hat versprochen, pünktlich daheim zu sein. Aber Wissenschaft geht vor, und so nimmt er den Auftrag zur „Zerlegung“ Einsteins an. Zuhause feilt er später an der Kunst des Inszenierens. Mit seinen Kindern redet er stets mit der linken Hand, die Minus genannt wird, und in Form einer didaktischen Figur als pure Hand Anweisungen gibt.

Ideologisch gesehen ist Harvey Quäker und darauf aus, ein guter Mensch zu sein. Dazu gehört es zwischendurch, Gott gefällig zu sein und religiösen Flachwurzlern Gott näher zu bringen.

Aus dieser Gott-Gefälligkeit heraus zerlegt der Pathologe den Leichnam Einsteins über mehrere Seiten hinweg, wobei der Autor wie seinerzeit im Roman „Das Floß der Medusa“ wieder alle alle pathologischen Register zieht.

Genährt von seinem eigenen Geistesblitz beschließt er, das Hirn extra aufzubewahren, während er den Kopf des verstorbenen Genies mit Papier ausstopft. Das Hirn beginnt tatsächlich zu sprechen, als es ins Schauglas gekippt ist, und die Aufgabe wird nun sein, das Geniale festzustellen und durch Sezieren sichtbar zu machen.

In der Folge befriedigt der Roman zwei Erwartungsstränge. Das Schicksal des Pathologen wird anhand seiner dürren Biographie üppig ausgeschmückt, seine Ehen, Vorträge und Visionen ergeben bereits ein fettes Brot, auf dem ununterbrochen Aufstriche geschmiert sind, indem das Hirn ja jeden Tag etwas von sich gibt.

Dabei kommt einerseits die Geschichte Amerikas zum Vorschein, indem die Jahre so nebenher ablaufen und ab und zu als Jahreszahl aufpoppen. Etwa: „1970 war kein gutes Jahr für Pop.“ (359) Neben der Mondlandung fungieren vor allem die Drei W als Markierungen amerikanischer Geschichte. („Wietnam“, Woodstock, Watergate!)

Andererseits türmen sich große Fragen über Gott und die Welt auf wie die Explosion einer Atombombe. Aber wahrscheinlich sind diese großen Fragen nur Inszenierungen, wie sie einst die Linke Hand als Minus den Kindern gezeigt hat. In dieser Inszenierung mutiert Harvey zum „Weißen Hasen“, wie er in psychodelischen Schilderungen weit verbreitet ist.

Als durchgehender Faden ist die Korrespondenz mit den Erben Einsteins ausgelegt, diese wollen endlich das Hirn zurück und ordnungsgemäß verbrennen, nachdem der Leichnam bereits kurz nach dem Tod kremiert worden ist. Der Held freilich hilft sich mit dem Bonmot:

Wenn die Zeit relativ ist, spielt sie auch keine Rolle. (109)

Als sich wissenschaftlich nichts Relevantes an den Kuben feststellen lässt, in die das Gehirn mittlerweile zerlegt ist, reift die entscheidende Erkenntnis auf nicht wissenschaftlicher Basis heran:

Einsteins Geist ist unerlöst! (246)

Die Ehen wechseln immer schneller, da der Pathologe mit seinen Frauen wie mit Genies redet, wodurch sich diese eingesperrt wie in Einweckgläsern fühlen und sich aus den Ehen selbst erlösen durch Scheidung.

Die größte Begegnung mit der Realität fällt dem Hirndieb eines Tages überraschend zu, als eine Hippie-Gruppe in seinem Garten einen VW-Bus abstellt und während dessen Reparatur eine Session zelebriert. Hellhörig für den Geist der Beatniks geworden, sucht Harvey die Freundschaft des „Naked Lunch“ Autors William S. Burroughs, der für brauchbare Bewusstseinserweiterung sorgt.

Diese offene Welt, in der das Hirn Einsteins wie ein ordinärer Gebrauchsgegenstand wirkt, wird jäh beendet durch eine irdische Herzattacke. Der Notruf an Burroughs ist makaber-genial: „Herzinfarkt! Hilfe!“ (505)

Bei einem der letzten Auftritte des Helden, als schon die Rückgabe des Hirns ins Auge gefasst ist, kommt es zu einem Attentat auf ein gewisses Gretchen, das mittlerweile in Klimasachen die Genialität Einsteins übertroffen hat. Das Gretchen stirbt in den Händen des Pathologen, der ihm nicht helfen kann, weil er keine Lizenz dafür hat.

In der letzten Szene hört Harvey im Autoradio allerhand Fake-news und kommt zur finalen Erkenntnis.

Die apokalyptischen Reiter kommen nicht zu Pferd, sondern auf Meinungen. Besserwisserische Rechthaber. Niemand wird sich retten, alle sind verdammt. (537)

Grandios, üppig, barock, österreichisch, „hirnrissig“! – Die Fans bitten begeistert um den Nachfolgeband „Einsteins Harn“.

Franzobel, Einsteins Hirn. Roman
Wien: Zsolnay Verlag 2023, 542 Seiten, 28,80 €, ISBN 978-3-552-07334-0

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Franzobel, Einsteins Hirn
Wikipedia: Franzobel
Wikipedia: Albert Einstein
Wikipedia: Thomas Stolz Harvey

 

Helmuth Schönauer, 22-01-2023

Bibliographie

AutorIn

Franzobel

Buchtitel

Einsteins Hirn

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Zsolnay Verlag

Seitenzahl

542

Preis in EUR

28,80

ISBN

978-3-552-07334-0

Kurzbiographie AutorIn

Franzobel, geb. 1967 in Vöcklabruck, lebt in Wien.

Albert Einstein, Genie, geb. 1879 in Ulm, starb 1955 in Princeton.

Thomas Stoltz Harvey, Pathologe, geb. 1912 in Louisville, starb 2007 in Titusville.