Lesekompetenz und Literatur im Deutschunterricht – Teil 4
Welche Rolle spielt das Lesen von Literatur im Unterricht bei der Ausbildung von Lesekompetenz und für die Leseentwicklung und persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Diese Frage stellt sich speziell für Lehrerinnen und Lehrer, die das Fach Deutsch unterrichten und ihren Schülerinnen und Schüler die Potenziale von Literatur vermitteln wollen.
Aussagestarke literarische Texte führen meist von selbst zu Diskussionen und regen damit zum Lesen an. Ähnlich wie Filme, die betroffen machen, zu Gesprächen anregen und die eigene Sichtweise zu erweitern.
Im Unterricht über Literatur sprechen
Meist wird im Unterricht in einem vom Lehrer vorbereiteten und gelenkten Gespräch mit Fragen und Antworten über Literatur gesprochen, wobei die Zielrichtung der Diskussion vorher festgelegt wird. An diesen Gesprächen beteiligt sich erfahrungsgemäß aber nur ein Teil der Schülerinnen und Schüler, sodass ein offener und gleichberechtigter Austausch von Gedanken und Meinungen untereinander praktisch nicht stattfindet. Die persönliche Betroffenheit und Haltung und die persönlichen Eindrücke der Schüler werden kaum berücksichtigt und engen persönliche Zugänge zur Literatur ein.
Ein fragend entwickelndes Gespräch hingegen lässt die Diskussion zwischen den Schülerinnen und Schülern offen. Die Lehrer versuchen nur Impulse zu geben, die bestimmte Blickwinkel und Betrachtungsweise auslösen und eröffnen können und lassen die Schüler aktiv an der Diskussion mitwirken.
Literarische Gespräche
Literarische Gespräche finden üblicherweise in einem Sitzkreis statt. Zunächst wählt jeder Schüler in einer Vorleserunde eine Textstelle, die ihn besonders beeindruckt oder Fragen aufgeworfen hat, und liest sie vor. Anschließend geben die Schüler ihrer Erfahrungen mit dem Text als Ganzen wieder, bevor sie sich in einem offenen Gespräch über den Text, zum Inhalt, Leseerfahrungen, Themen und zur Bedeutung des Textes austauschen. Der Lehrer moderiert lediglich zwischen den Phasen, bleibt ansonsten jedoch gleichberechtigter Teilnehmer. Die Schüler sprechen, wenn und wann sie wollen. Die Ergebnisse des Gesprächs können schriftlich festgehalten werden.
Das gemeinsame Besprechen literarischer Texte im Unterricht regt an und eröffnet
neue Verstehenshorizonte und Interesse.
Sich im Stillen mit Literatur auseinandersetzen
Hermeneutik (Textinterpretation), Textanalyse und die Handlungs- und Produktionsorientierung sind bekannte Formen der Textverarbeitung, mit denen die einzelnen Leser selbständig einen Text näher untersuchen und hinterfragen können.
Hermeneutik – intersubjektiver Charakter auf Gespräch ausgerichtet
Die Hermeneutik gilt als ältestes Konzept der kritischen Auseinandersetzung mit einem Text. Ihr Ziel ist es, einen Text zu deuten, zu interpretieren und zu verstehen. Dazu müssen Zeit und soziales Umfeld der Textentstehung berücksichtigt werden, um zu ergründen, was uns der Text in der Gegenwart zu sagen hat. Auf ein erstes Lesen und erfassen des Textes, folgt eine nähere Untersuchung, ob dieses Verständnis einer näheren Überprüfung standhält. Diese wechselseitige Kontrolle entspricht dem sogenannten hermeneutischen Zirkel. In weiterer Folge versucht man sich der vermeintlichen Aussage des Textes, durch Berücksichtigung des historischen und sozialen Umfelds der Textentstehung, weiter anzunähern.
Textanalyse – textbezogen/objektivieren
Ein anderes Ziel verfolgt die Textanalyse, die den Schwerpunkt ihrer Beschäftigung auf die verschiedenen formalen und inhaltlichen Elemente des Textes legt. Sie untersucht die einzelnen Aussagen und verbindet die dabei entstehende Bedeutung zu einem inhaltlichen Gesamtzusammenhang. Was beim normalen Lesen meist unbewusst passiert, wird im Rahmen der Textanalyse explizit gemacht, was am besten schriftlich erfolgt. Damit lässt sich die Verlangsamung, die Systematisierung des Denkens, die Folgerichtigkeit und Vollständigkeit der Analyse am besten gewährleisten.
Inhalt und Intention eines Textes im Rahmen einer Textanalyse lassen
sich am gezieltesten schriftlich erfassen.
Handlungs- und Produktionsorientierung
Die Handlungs- und Produktionsorientierung will keine Philologen ausbilden, sondern den Schülern einen lebendigen und praktischen Zugang zur Literatur zu eröffnen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Leserinnen und Leser dem Text nicht in einer Subjekt-Objekt Beziehung gegenüberstehen. Sie betrachten den Text nicht distanziert von außen, sondern sind beim Lesen des Textes in die Handlung aktiv involviert und von dieser umfangen. Der Text wird nicht als Objekt, sondern als Bewusstseinsprozess erlebt. Elementares Motiv für literarisches Lesen bildet das Streben nach Sinn, das in einem guten Unterricht aufgegriffen werden sollte.
Phasen der Begegnung mit Literatur
Anfangs gehen die Schülerinnen und Schüler mit dem eigenen, noch begrenzten Verstehenshorizont an einen neuen Text heran, der zunächst unmittelbar und assoziativ erfasst wird. Dabei entsteht ein erster Interpretationsentwurf des Textes, der anschließend objektiv abgearbeitet, korrigiert und mit anderen Meinungen verglichen wird. Ein nächster Schritt unterzieht das erweiterte Verstehen einer neuerlichen Überprüfung und stellt diese in das eigene individuelle, soziale und kulturelle Umfeld. Anschließen wird der Text noch einmal auf sein historisches und gesellschaftliches Umfeld und auf seine literaturwissenschaftlichen Strukturen hin untersucht. Gewichtung und Schwerpunkt der wechselseitigen Phasen der Auseinandersetzung hängen schließlich vom Alter, der Kompetenz der Schüler und den Unterrichtszielen ab.
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>> Fördern der Leseleistung
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Verwendete Literatur:
Cornelia Rosebrock / Daniel Scherf, Lesedidaktik? Literaturdidaktik? Ein Dutzend Antworten für Einsteiger
Andreas Markt-Huter, 06-02-2023