Lesekompetenz und Literatur im Deutschunterricht - Teil 1

literatur im deutschunterrichtWelche Rolle spielt das Lesen von Literatur im Unterricht bei der Ausbildung von Lesekompetenz und für die Leseentwicklung und persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Diese Frage stellt sich speziell für Lehrerinnen und Lehrer, die das Fach Deutsch unterrichten und ihren Schülerinnen und Schüler die Potenziale von Literatur vermitteln wollen.

Dabei geht es nicht nur um die Inhalte von Literatur, sondern auch um die Entwicklung von Lesekompetenz, die Anwendung von Lesestrategien und die Ausbildung von Textkritik und Textanalyse für das Verständnis von Texten im Allgemeinen. Doch eins nach dem anderen.

Warum ist das Lesen und damit die Vermittlung von Lesekompetenz in der Schule für das Leben in unserer sogenannten „literalen Gesellschaft“ von so großer Bedeutung? Wirft man den Blick in die Vergangenheit, so stand die Vermittlung von Lesen, Schreiben und Rechnen im Mittelpunkt der schulischen Erziehung von Kindern. An der Notwendigkeit, Lesen und Schreiben zu können, hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert. Im Gegenteil, die Anforderungen an die Lese- und Schreibfähigkeit in unserer modernen Informationsgesellschaft sind vielmehr deutlich gestiegen.

Die Anforderungen an die Lesekompetenz

Moderne Gesellschaften sind literale Gesellschaften. Das bedeutet, dass ihr gesellschaftliches Leben wesentlich durch schriftliche Kommunikation bestimmt ist. Ihre Mitglieder müssen, um am Zusammenleben teilhaben zu können, über Schreib- und Lesefähigkeiten verfügen. (Rosebrock/Scherf: Lesedidaktik? Literaturdidaktik?, S. 11)

Der aus dem englischen Sprachgebrauch kommende Fachbegriff „Literalität“ geht weit über die reine Lesefähigkeit hinaus und meint ein ganzes Bündel an individuellen Fähigkeiten, die es braucht, um sich gezielt und bewusst mit Texten auseinandersetzen zu können. Dazu gehört das Rezipieren von Texten, die Fähigkeit selbst schriftliche Texte zu verfassen sowie die Anwendung von Strategien, um die Wissensinhalte aus fremden Texten zu verstehen und anzuwenden. Literalität ist aber auch ein wichtiger Teil des sozialen Lebens, mit deren Hilfe wir Erfahrungen, Meinungen und Wissen austauschen und abrufen können, was in unserer von Medien durchdrungenen Lebenswelt häufig in schriftlicher Form erfolgt.

lesekompetenz
Lesekompetenz spielt in der Gesellschaft der Gegenwart beruflich wie privat
eine zentrale Rolle.

 

Standen beim Lesen früher Bücher und Zeitungen im Mittelpunkt, hat sich die Form der schriftlichen Kommunikation mit digitalen Medien deutlich verändert. Dabei haben sich die Anforderung an das Lesen durch die Digitalisierung zwar verschoben, sind aber deswegen nicht weniger geworden. Weil schriftlichen Texten im Gegensatz zur mündlichen Kommunikation zusätzliche verbale oder nonverbale Elemente wie Lautstärke, Betonung beim Sprechen, Gestik, u.ä. fehlen, müssen Texte überlegter, genauer und prägnanter verfasst werden. Auch können Missverständnisse nicht unmittelbar behoben, Ungenauigkeiten im Gespräch präzisiert und Aussagen ergänzt werden. Die Texte müssen so detailliert verfasst sein, dass sie unabhängig vom jeweiligen Kontext verständlich sind. Außerdem zeigt sich die Schriftsprache im Vergleich mit der mündlichen Rede grammatikalisch ausgefeilter und komplexer.

Das Aufkommen digitaler Medien lässt auch hier Veränderungen erkennen. Die von ihrem Konzept her mündlichen Chats in Sozialen Medien weisen analog zur mündlichen Kommunikation eine wenig strukturierte und spontane Form auf. Dabei wird geringer Wert auf grammatikalische Korrektheit gelegt. Zusätzlich verdeutlichen und ergänzen bildliche Elemente wie Smileys und Emojis das Gemeinte.

Im Gegensatz dazu verwenden Reden, Predigten, Vorträgen u.ä. Darstellungsformen, wie sie konzeptionell in schriftlichen Texten zu finden sind. Generell nehmen schriftsprachliche Texte im Bildungsverlauf kontinuierlich zu. Schülerinnen und Schüler verfassen und lesen im Laufe ihrer Ausbildung schriftsprachliche Sachtexte und literarische Texte, die in Syntax, Rhetorik und Vokabular immer komplexer und werden damit zu einem Merkmal von Bildung.

Aufgabe der Schule ist es, Literalität aufzubauen, um die Schülerinnen und Schüler an einer komplexen literalen Gesellschaft teilhaben zu lassen, in der Allgemeinbildung, Berufsbildung und Wissen vorwiegend schriftlich und schriftsprachlich vermittelt wird. Literale Kompetenzen zählen zu den zentralen Fähigkeiten für Beruf, politische Mitsprache und die persönliche Entwicklung des Einzelnen.

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Aufgabe der Schule ist es, die Schülerinnen und Schüler auf die Anforderungen
einer komplexen literalen Gesellschaft vorzubereiten.

 

Literarische Texte: Bedeutung und Vermittlung

Literarische Texte dienen hauptsächlich der persönlichen Unterhaltung, dem ästhetischen Genuss und dem Bildungsziel, die Persönlichkeit sowie die kulturelle und soziale Integration zu fördern und weniger der Vermittlung von Wissen. Für die Bildungsarbeit in der Schule bedeutet dies, dass die ungleichen Voraussetzungen literaler Sozialisation, welche die Schülerinnen und Schüler von zu Hause mitbringen, bei der Vermittlung literaler Fähigkeiten durch eine unterschiedliche Förderung im Unterricht berücksichtigt werden müssen.

Literaturdidaktisch stellt sich die Frage, welche Form der Literatur soll wie, wann und warum gelehrt und gelernt werden. Damit wird für den Unterricht festgelegt; welche Literaturgattung für welche Alters- und Entwicklungsstufe mit welchen Mitteln behandelt und welches Ziel damit erreicht werden soll. Im Unterricht sollen keine „Literaturwissenschaftler“ ausgebildet, sondern altersgerecht und abhängig von den literalen Fähigkeiten Literatur nähergebracht und vermittelt werden.

Die Lesesozialisation von Kindern und Jugendlichen

In diesem Zusammenhäng kommt der Lesesozialisation von Kindern und Jugendlichen eine besondere Bedeutung zu, die bereits in der frühesten Kindheit mit dem Vorlesen von Geschichten, dem gemeinsamen Lesen und Besprechen von Kinderbücher mit den Eltern aber auch dem Lesevorbild der Eltern selbst ihren Anfang nimmt. Zudem bilden die Kommunikation, der verwendete Wortschatz und der Stellenwert von Büchern und Literatur in der Familie die Grundlage für die unterschiedliche literale Entwicklung von Kindern bis zum Schuleintritt.

Eine US-amerikanische Studie zeigt u.a., dass der Wortschatz von Dreijährigen aus Akademikerfamilien statistisch gesehen mehr als doppelt so groß ist wie bei Gleichaltrigen aus Familien, die von staatlichen Zuwendungen abhängig sind.
(Rosebrock/Scherf, S. 46)

Für das Verständnis literarischer Texte, sowie von Texten im Allgemeinen braucht es eine entsprechende Leseflüssigkeit. Ein Stocken und Stolpern durch den Text machen ein inhaltliches Verstehen des Gelesenen schwierig bis unmöglich. Dadurch geht die zu Schulbeginn bei den meisten Kindern vorhandene Lust, Lesen lernen zu wollen, rasch wieder verloren.

privates lesen
Während in der Kindheit meist noch gerne und viel gelesen wird, nimmt
die Leselust im Laufe der Pubertät stetig ab. Gerade in diesem
Lebensabschnitt stellt die Lesemotivation eine große Herausforderung
für den schulischen Unterricht dar.

Ende der 1990-er Jahre wiesen Studien die späte Kindheit noch als Lebensabschnitt aus, in dem statistisch gesehen am meisten gelesen wird. Die gilt jedoch nicht für jene 20 % an Kindern und Jugendlichen, die zu den schwächsten Leserinnen und Lesern gezählt werden. Diese entwickeln „statistisch gesehen keine nachhaltige persönliche Lesekultur. Ihre Lesepraxis löst sich kaum von dem Pflichtlesen, das die Schule fordert. Entsprechend ist ihr lesebezogenes Selbstkonzept meist negativ gepolt.“ (Rosebrock/Scherf, S. 50)

Dies wird verstärkt, weil die Leselust im Laufe der Pubertät generell stark absinkt. Während in der Grundschule eine gemeinsame Buchlektüre noch positiv aufgenommen wird, lässt sich in der Sekundarstufe kaum ein Buch finden, das alle Schülerinnen und Schüler anspricht.

Gerade in der achten und neunten Schulstufe steht der Literaturunterricht vor der großen Herausforderung, die Jugendlichen durch interessante und altersgerechte Lektüre auch in der Freizeit zum Lesen von Büchern zu animieren und beim Lesen zu begleiten. Für individuelle Lesetipps oder die Auswahl einer spannenden Klassenlektüre ist ein Überblick über die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur besonders wichtig.

Nach der Phase der „literarischen Pubertät“ bilden sich unterschiedliche Lesehaltungen aus, die auch miteinander verbunden sein können. Ein Teil wendet sich vollständig vom literarischen Lesen ab, andere Lesen, um sich vom Alltag abzulenken (intimes Lesen), wieder andere wollen Teil einer sozialen Gruppe sein (partizipatorisches Lesen) oder bestimmte Interessen befriedigen (Konzeptlesen). Auch lässt sich eine Gewichtung der Interessen auf Sachtexte oder auf literarische Texte zwischen Männern und Frauen deutlich erkennen.

 

  >> Fördern der Leseleistung
  >> Texte für den Literaturunterricht?
  >> Im Unterricht über Literatur sprechen

 

Verwendete Literatur:
Cornelia Rosebrock / Daniel Scherf, Lesedidaktik? Literaturdidaktik? Ein Dutzend Antworten für Einsteiger
 


Andreas Markt-Huter, 06-02-2023

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