H. C. Artmann, Der Wackelatlas

h. c. artmann, der wackelatlasIn der Mythologie ist der Atlas etwas vom Stabilsten und Schwersten, was ein Titan tragen kann. Wenn nun aber der Atlas zu wackeln und zu schwächeln beginnt, wie zerbrechlich müssen dann erst Halbgötter und Menschen sein?

H. C. Artmann ist ein kosmopolitischer Poet, in allen Sprachen und Ländern zu Hause, ein Geschichten- und Sprachenerfinder, ein eruptiver Lyriker, und vor allem ein unsterblicher Benützer eines Ehrengrabes. So frech und selbstbewusst hat er sich selbst eingeschätzt, wohl wissend, dass ihn in seiner Erhabenheit als Solitär letztlich niemand berühren und korrigieren konnte. Und so musste er mit seiner Poetik im Leib sein Leben allein zu Ende bringen.

Knapp zwanzig Jahre nach seinem Tod macht der Universal-Poet noch einmal von sich reden, mit einem Genre nämlich, das aus dem Grab herauspringt und ungebremst weiterlebt. Die Mitschriften der Sterbeinterviews machen sich auch als Buch wunderbar, beim Lesen wird man von selbst ganz transzentrisch und moribund fröhlich.

Bis vier Tage vor seinem Tod haben seine Tochter Emily Artmann und seine Nichte Katharina Copony elf Gespräche mit dem Dichter geführt und auf Kassette mitgeschnitten. Das Material sollte für ein Porträt verwendet werden, das den Autor in seinem literarischen Wirken zeigt. Das Private und Besorgte ist für sich genommen jedoch ein ganz anderes Porträt geworden, es zeigt, wie ein Mensch in seiner Hülle schwach wird und allmählich mit der Erinnerung auch die Organe zurückfährt.

Das „Wackelbuch“ ist ein langer Diskurs über Dinge, die der Autor nur mühsam sich entlocken lässt. Die beiden Frauen ermuntern ihn, werfen ihm Hölzl, versuchen an gemeinsamen Geschichten anzudocken und erkunden oft mühsam den Schreiballtag.

Das geschürfte Material zeigt letztlich einen Solitär, der allein in einem Sprachuniversum ausgesetzt worden ist, ohne Ziel und Rückversicherung. Ein wenig erinnert er an den Major Tom, zu dem allmählich der Funkkontakt abreißt.
Bemerkenswert am Interview ist die offen gehaltene Würdigung des Gesagten, letztlich ist es der Leser des Wackelatlas, der entscheidet, was für sein Artmann-Bild wichtig ist.

Artmann hat nie mit der Handschrift das Gedachte aufgerollt, sondern er musste sich in der Zeit nach dem Krieg Schreibmaschinen ausleihen, die er eine bestimmte Zeit lang benutzen durfte. Daraus folgt auch äußerste Konzentration, denn man darf beim Dichten keine Zeit vergeuden, und Alkohol wäre ein großer Verschleuderer von Ressourcen.

Mit Alkohol schreibe ich nicht. (77)

Zum Schreibvorgang fällt der Vergleich mit einem „künstlichen Tagebuch“ (14), durch Verfassen kann etwas zur Kunst werden, aber auch die Kunst, die aus dem Alltag ausbricht, muss eingefangen und verfasst werden. „Ich kann ein Wort nicht mehr loswerden, bis nicht ein Gedicht daraus gemacht ist.“ (38) Der Schreibvorgang selbst geschieht ohne nachzudenken, was da im Kopf passiert, weiß der Schreiber selbst nicht. Das Schreiben führt jedenfalls zu kurzen Sätzen, Schachtelsätze funktionieren nicht bei dem, was der Autor vorhat. Es geht eher in die Verknappung, beispielsweise ins Verfassen von sogenannten Blindzeichnungen.

In die Interviews sind folglich ein paar Blindzeichnungen eingefügt, Kritzeleien, wie sie ohne hinzusehen neben Telefonaten entstehen oder während man in die Luft starrt. Wichtig sind vor allem die „Bezeichnungen“, die man den Zeichnungen hinterher gibt, etwa Italien, Böhmen, Ganz Europa I, Griechenland und Akropolis, Estland, Lettland und Litauen als eine Zeichnung.

Diese geographischen Begriffe sind der Versuch, das Unnütze, Unsagbare und Unbequeme mit einem Dunst von Ordnung zu versehen. Ein Leben lang nämlich leidet H. C. Artmann darunter, dass er zwar alle Sprachen beherrscht, aber nichts damit anfangen kann. „Ich konnte die Sprachen nie ausnützen.“ Das ist vielleicht ein poetisches Prinzip, wenn man mit seinem Werk bestens verankert in einer Sprache aufgehoben ist, aber niemand sie spricht.

Die Sprache wird nach dadaistischem Konzept zu einem emotionalen Gebilde, das aber nicht für Information oder Befehl geeignet ist.

Ein Schlüsselerlebnis ist die erste Desertion (Artmann ist zweimal von der Wehrmacht desertiert), als er sich von der Strafkolonie entfernt und allein durch Estland und Lettland streift, und mit niemandem redet, obwohl er deren Sprache spricht.

Diese Entfremdung mit den Sprachanwendern kommt im Interview in der sogenannten Bundesländerbeschimpfung zur Geltung, als alle drei Materialsammler plötzlich vom Stoff-Pfad abbiegen und über die Bundesländer herziehen. Darin leben die Einheimischen jenseits von Intellekt und Aufgabenstellung wie die Tiere über die eigenen primitiven Triebe gebeugt, nur dass sie halt Schnitzel und Sex dazu sagen.

Fast in jeder Gesprächssitzung (der Dichter liegt ja schwach und leise vor dem Mikrophon) kommt der Krieg zum Vorschein, der im Unterbewusstsein schwere Schäden angerichtet hat. „Ich war nicht traumatisiert, ich habe alles als Abenteuer aufgefasst. Der Krieg war aus, und für andere ist die Welt zusammengebrochen, für mich aber aufgebrochen.“ (166)

Das dramaturgische Element ist der Aufgriff eines geworfenen Hölzls, die Frauen sagen etwas, und Artmann beginnt mit seinen zwei Formeln, die er in seinem geschwächten Zustand noch hat, zu antworten: „Na ja“ und „na da“.

Wenn nichts mehr kommt, wird Kassettenwechsel notiert. Die letzte Sitzung findet am 30. November 2000 statt, am 4. Dezember ist der Poet tot. Er sei schon drei Jahre nicht mehr ins Freie gekommen, seufzt er, vom Besuch einer Buchhandlung keine Spur.

Das Genre „Sterbeinterview“ passt zu H. C. Artmann, da kann er während des Redens schon ein Stück voranschreiten ins Jenseits und seinen Gedanken nachgehen, bei denen er niemand in der Nähe haben kann. Und trotzdem kommt er durch dieses wackelige Ansinnen plötzlich ganz nach und er wirkt fröhlich, das er gerne ohne H schreiben würde, so wie Haarfön.

H. C. Artmann, Der Wackelatlas. Ein Gespräch mit Emily Artmann und Katharina Copony. Mit Blindzeichnungen des Autors.
Klagenfurt: Ritter Verlag 2022, 199 Seiten, 14,90 €, ISBN 978-3-85415-628-4

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: H. C. Artmann, Der Wackelatlas
Wikipedia: H. C. Artmann, Der Wackelatlas

 

Helmuth Schönauer, 18-04-2022

Bibliographie

AutorIn

H. C. Artmann

Buchtitel

Der Wackelatlas. Ein Gespräch mit Emily Artmann und Katharina Copony

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Ritter Verlag

Illustration

H. C. Artmann

Seitenzahl

199

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-85415-628-4

Kurzbiographie AutorIn

H. C. Artmann, (1921–2000), österreichischer Dichter und Übersetzer.

Emily Artmann, geb, 1975 in Salzburg, lebt in Wien.

Katharina Copony, geb. in Graz, lebt in Wien und Berlin.