Rachel Cusk, Der andere Ort

rachel cusk, der andere ortWie ernsthaft kann ein Roman gemeint sein, wenn gleich zu Beginn der Teufel auftaucht und die Erzählerin in einem Pariser Vorortzug zu stalken beginnt?

Diesen Teufel sollte man ernst, wenn nicht gar wörtlich nehmen, denn er stammt von Rachel Cusk. Soeben hat sie die lesende Gesellschaftsschicht in Schwingung gebracht mit ihren Romanen über die „Unwirklichkeit“ zwischen den Geschlechtern, die letztlich an den Kollateralschäden ihrer Beziehungen ersticken.

Jetzt heißt es für die Leserschaft, sich neu zu sortieren. Im „anderen Ort“ geht es ebenfalls wieder um diesen Unwirklichkeitssinn, der zwischen den Beziehungen liegt, aber die Brutalität von Nahtod-Umarmungen wird gemildert und veredelt durch ein romantisches Setting, das stets an der Klischeelinie entlangsurft.

Rachel Cusk relativiert die Ergebnisse ihrer Seelenforschung schon durch den Titel. „Der andere Ort“ (im Original Second Place) ist so etwas wie eine Sekundärgeographie, die schützend über die Helden aufgebaut ist. Zudem erzählt die Ich-Erzählerin in Form eines Evokations-Romans, sie ruft ständig einen gewissen Jeffers an wie einen Hilfspatron in einer Litanei. Und schließlich taucht am Schluss die vage Notiz auf, dass der Roman eine Hommage an Mabel Dodge Luhan ist, die 1922 einen gewissen D. H. Lawrence auf ihrem Anwesen in New Mexico aufgenommen, verpflegt, umrankt und protegiert hat.

Aber selbst die scheinbar aktuelle Romanfassung wird relativiert, sie soll eine Verbesserung von etwas sein, was niemand kennt, vielleicht handelt es sich auch nur um eine Illusion, die durch Niederschrift zu einer Verbesserung wird.

So ließe sich dann der Teufel am Eingang des Romans erklären, der die Erzählerin verfolgt, auch wenn sie den Platz im Abteil wechselt. Kaum schlägt sie die Augen auf, sitzt ihr der Teufel schon gegenüber und ist geil.

Die Erzählerin ist stolz darauf, dass sie so eine starke Vorstellungskraft entwickeln kann, andererseits irritiert es sie, dass es ins Obszöne geht und sie die Illusion eines Gegenübers nicht bis ins Letzte steuern kann.

Die Heldin verfolgt vor allem die falsche Reihenfolge beim Erzählen, zuerst muss es ja die Geschichte des Willens geben, etwas zu veranstalten, erst hinterher wird es zu einem Ereignis, wenn es erzählt wird.

Einen Sommer lang soll deshalb ein international anerkannter Maler L. auf ihr südenglisches Gut im Marschland eingeladen werden, die Erzählerin erwartet sich im Diskurs mit ihm eine Bereicherung ihrer künstlerischen Seele als kleine Schriftstellerin.

Im diffusen Marschland, bei wechselnder Witterung und hormoneller Instabilität, geht der Sommer freilich in die Hose. Nichts wird so, wie es sich die Planende mit „teuflisch“-starkem Willen ausgedacht hat.

Als der Maler L. nach allerhand Verzögerungsmätzchen doch auftaucht, hat er als Überraschung seine Geliebte Brett mit, die sofort als Stachel ins Fleisch der Erzählerin springt. Schon bei der Begrüßung macht sie sich über die grauen Harare der Gastgeberin lustig und möchte sie sofort einfärben.
Die Tochter hat sich einen schwindligen Freund eingeladen, der nichts Besseres weiß, als Schriftsteller zu werden, als er vom Beruf der Geliebtenmutter hört.

Und Mann Tony, der gefühlt schon Jahrhunderte als Findelkind im Marschland lebt, fühlt sich mit einsetzendem Regen gekränkt und verschwindet fünf Tage lang, bis er seelische wieder auftrocknet.

Obwohl die Anlage aus viel Natur, einem Wäldchen und zwei Häusern besteht, gehen sich die drei Paare unter- und übereinander auf die Nerven.

Vor allem die Achse zum Maler schmerzt, als dieser anstatt sie zu malen, zur Heldin trocken sagt, dass er sie nicht sehe. Der Maler ist in einer formidablen Schaffens- und Sinnkrise, und während er antriebslos in die Marsch schaut, verfällt der Kunstmarkt an Überhitzung.

Wenn schon die Erbauung durch Kunst und sinnliche Artefakte nicht gelingt, so funktioniert die Schärfung des Bewusstseins vielleicht durch Dekonstruktion? In einer Übungsannahme vergleicht die Heldin die Schaffenskrise des Malers mit ihrer Libido-Krise als Frau, Mutter und Moderatorin eines „anderen Ortes“.

Es geht nicht um das Zeigen der Künste und Lüste, sondern um das Erlauben. Die Verführung des Teufels besteht darin, dass er sich die Erlaubnis erschleicht.

Wo Kunst am Werk ist, braucht es immer auch einen Alltagsrahmen, der die Spannung zwischen Erleben und Überleben abfedert. An manchen Tagen verkommt der Sommer zu einer einzigen Kammerspiel-Verstörung, worin die Akteure auf und ab flanieren wie in alter Zeit, als das Künstlerleben noch zelebriert worden ist wie die Kunst selbst.
Die Szenerie löst sich auf, der Maler wird in einem Anflug von Spätwerk rehabilitiert und stirbt einsam in einem Hotel, selbstverständlich hat er einen knapp fertig geschriebenen Brief in den Händen, worin er beklagt, dass es nirgendwo so schön gewesen ist wie damals im Marschland.

Die Erzählerin, immer noch in direkter Anrede zu einem gewissen Jeffers, resümiert den Blick des Malers auf die Welt: Er ist krank, er sieht die Unwirklichkeit, nicht den Tod. (197)

Rachel Cusk im Stil eines Spaziergangs flanierender Seelen verpacktes Kunstwerk hält die Leser Satz für Satz in Anspannung. Stets ein Klischee vor Augen, dampfen die einzelnen Sätze wie Konfetti aus den Tipp-Rohren, ehe sie dann einzeln die Kurve kriegen und etwas Raffiniertes beschreiben: Den anderen Ort! Dieser entwickelt sich als Fußnote unten im Text, während wir diesen oben mit erfahrenen Leseaugen abscrollen.

Rachel Cusk, Der andere Ort. Roman. A. d. Engl. und mit einem Nachwort von Eva Bonné. [Orig.: Second Place, London 2021]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2021, 202 Seiten, 23,70 €, ISBN 978-3-518-43018-7

 

Weiterführender Link:
Suhrkamp Verlag: Rachel Cusk, Der andere Ort
Wikipedia: Rachel Cusk

 

Helmuth Schönauer, 14-06-2022

Bibliographie

AutorIn

Rachel Cusk

Buchtitel

Der andere Ort

Originaltitel

Second Place

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Eva Bonné

Seitenzahl

202

Preis in EUR

23,70

ISBN

978-3-518-43018-7

Kurzbiographie AutorIn

Rachel Cusk, geb. 1967 in Kanada, lebt in Paris.