Evelyne Lorenz, Das neunte Land

evelyne lorenz, das neunte landDer sogenannte Bundesländerroman gilt als eine raffinierte Besonderheit für die Rezeption der Literatur. Da der Grunderwerb von Lesen und Schreiben sowie das Betreiben von Schulen, Bibliotheken und Archiven meist in die Kompetenz der Länder fallen, hat sich ein eigenes Genre entwickelt, das fallweise die öffentlichen Bedürfnisse einer Region erfüllt. Im Volksmund nennt man dieses Kulturgut streng „Bundesländerroman“.

Evelyne Lorenz hat ein staatstragendes Jubiläum zum Anlass genommen, um anhand einer didaktischen Story die Geschichte des Burgenlandes in den letzten hundert Jahren zu erzählen. Der Bundesländerroman erweist sich dabei als passables Genre, um verzwickte Geschichte unterhaltsam darzustellen.

Eine Mühle, egal in welchem Zustand, dient schon seit Jahrhunderten als das Motiv schlechthin, wenn es darum geht, Dauer, Zeit, Veränderung als das Vermahlen purer Hartnäckigkeit darzustellen. So ist die Geschichte des Burgenlands ab 1919 vielleicht selbst eine Art Mühle, durch welche die Zeitgeschichte geschreddert wird.

Titel und Genre liefern konzis den Plot des Buches. Das neunte Land (man verliest sich auch und sieht „das neue Land“) kommt zu Österreich und muss sich erst zurechtfinden. Das Gleiche wird den Generationen abverlangt, die plötzlich in einem veränderten Wirtschaftsfeld leben, von der staatstragenden Gefühlslage ganz zu schweigen.

In kleinen Essays ist die Geschichte des Burgenlandes ausgelegt. Vom schweren Start über Volksabstimmung, die Abspaltung von Sopron und die Namenssuche für das neue Land bis hin zu ersten Verwaltungsproblemen durch die provisorische Hauptstadt Bad Sauerbrunn wird alles angesprochen, was in der Verwüstung nach dem Ersten Weltkrieg anfällt und notdürftig bewältigt werden muss.

Das Aufräumen eines allgemeinen Desasters führt der Pionier Johann Martin vor, der zuerst seine Mühle in Schuss bringt, anschließend die neuen Verkehrsströme beackert und schließlich durch den Bau eines Kleinkraftwerkes den Sprung in die neue Zeit schafft. Diese Modernisierung hat ihren Preis, seine Frau versinkt in den Fluten der Anlage und der Witwer fühlt sich hilflos verlassen wie das ganze Burgenland. Ihm bleibt nichts anderes übrig als ständig zu heiraten, während seine Frauen versterben oder auswandern.

Bundesland und Bevölkerung meistern allmählich den ersten Überlebenskampf. Für die meisten im Familienverband bedeutet es allerdings, auszuwandern. Amerika wird eine Zeitlang zur Heimat der Burgenländer.

Die feudalen Strukturen des Landes lassen sich nur zaghaft abschütteln und mit dem modernen Staat in Verbindung bringen. Einmal wird das Burgenland berühmt in der Ersten Republik, als es 1927 mit dem Attentat in Schattendorf Republik-Geschichte schreibt und diese fast zum Einsturz bringt.

Der Familienverband der Martins wächst in Amerika und rund um die Mühle gleichermaßen. Leben im feudalen Mühlenwesen bedeutet, sich davon zu emanzipieren. Als eine Tochter zu einem Gendarmen nach Jennersdorf zieht, ist das ein Befreiungsschlag für die Untertanen des Feudalwesens. Die nächste Generation ist in der Republik angekommen, indem sie zur Sicherheit des Landes beiträgt.

Der „Generationenanführer“ Johann heiratet eine kränkelnde Frau, die bald stirbt, und dann noch einmal platonisch, aber diese Frau hält es mit den Nazis und greift aktiv in die Vertreibung der „Zigeuner“ ein, die seit Jahrhunderten im Burgenland ansässig sind.

Der Zweite Weltkrieg verschont lange das Burgenland, ehe es zu fundamentalen Veränderungen kommt. Das Massaker von Rechnitz 1945 wird die Gesellschaft noch lange in Atem halten, gelten doch selbst in entlegenen Gebieten künftig Recht, Geschichtsbewusstsein und Aufarbeiten der Vergangenheit.

Bald nach dem Krieg wird hinter der Mühle der Eiserne Vorhang errichtet, durch den das Burgenland zweimal in der Weltgeschichte weltberühmt wird. Einmal als er während der Flucht der Ungarn 1956 niedergetreten wird, und ein andermal, als ihn der österreichische Außenminister telegen mit dem Bolzenschneider aufweitet.

Als der Mühlenbesitzer 1988 stirbt, ist die neue Zeit schon eingezogen. Bald darauf geht der Vorhang nieder, und die Mühle bleibt sich selbst überlassen.

Als treibende Wirtschaftskraft haben sich jetzt hochwertige Tätigkeiten wie Weinbau und Tourismus etabliert, für Getreide und Mahlen von Zeit ist kein Bedarf mehr gegeben.

Pünktlich zum 100-Jahr-Jubiläum steht das Burgenland fein da, Pandemie und Krieg sind nicht einmal zu erahnen. Ein guter Zeitpunkt, den Bundesländerroman zu beenden, ehe wieder etwas Schreckliches passiert.

Evelyne Lorenz’ Absicht, mit dem „neunten Land“ das Bundesland zu würdigen, hat etwas von der Paula von Preradović an sich, als sie eine feierliche Bundeshymne dichtet, die später im Nationalrat als Text gegendert und zerstört wird.

Wenn die Gender-Kommission den Roman entdecken sollte, wird sie ihn vermutlich auf die schwarze Liste setzen. Denn die Frauen haben zwar in Wirklichkeit und im Roman das Bundesland aufgebaut, gehen aber bei Feierlichkeiten gerne im männlichen Duktus der Geschichtsschreibung unter.

Die Nachfahren der Mühlen-Dynastie repräsentieren das moderne Burgenland: Sie sind vor allem männlich, haben studiert und widmen sich jetzt dem Naturschutz, um das Burgenland für die nächsten 100 Jahre fit zu machen.

Das Wesen des Bundesländerromans besteht darin, dass er die Wahrheit zwischen den Zeilen ausspricht.

Evelyne Lorenz, Das neunte Land. Ein Generationenroman zum 100-Jahr-Jubiläum des Burgenlandes
Graz: Edition Keiper 2020, 239 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-903322-12-7


Weiterführender Link:
Edition Keiper: Evelyne Lorenz, Das neunte Land

 

Helmuth Schönauer, 03-08-2022

Bibliographie

AutorIn

Evelyne Lorenz

Buchtitel

Das neunte Land. Ein Generationenroman zum 100-Jahr-Jubiläum des Burgenlandes

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

239

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-903322-12-7

Kurzbiographie AutorIn

Evelyne Lorenz, geb. 1950 in Graz, lebt in der Südsteiermark.