Alain Deneault, Die Herrschaft der extremen Mitte

alain denault, die herrschaft der extremen mitte„Was kann ein Mittelmäßiger am besten? Einen anderen Mittelmäßigen erkennen. Sie tun sich zusammen, kraulen sich gegenseitig das Fell und danken es mit einer Gegenleistung, um einem wachsenden Klan den Rücken zu stärken, denn schon bald werden sie andere Mittelmäßige anziehen. Wichtig dabei ist nicht so sehr, Dummheit zu vermeiden, als sie mit Bildern der Macht zu schmücken.“ (S. 11)

Wenn nur mehr die Macht des Geldes regiert und alle sich in den Dienst der Reichen und Mächtigen stellen, um deren selbstbezogene Ziele zu verfolgen, herrscht das Mittelmaß, das nicht mehr über ein vorgegebenes Denken und Handeln hinauskann und das alle Bereiche des geistigen, ökonomischen und kulturellen Lebens durchzieht.

Mit der Teilung und Industrialisierung der Arbeit ist der Blick für das Ganze verloren gegangen, wobei der Einzelne nur mehr als Experten für kleine Teilschritte des Ganzen erscheint. Immer mehr werden periphere Tätigkeiten und Fähigkeiten in den Mittelpunkt gerückt, die mit der ursprünglichen Sache nicht mehr viel gemein haben, ihr sogar entgegenarbeiten, wie Deneault zunächst am Beispiel des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs veranschaulicht.

In drei Kapiteln werden die großen Gesellschaftsbereiche Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur auf ihre zunehmend ökonomische Ausrichtung und ihre Kontrolle durch die Reichen und Mächtigen hin beleuchtet. Im ersten Kapitel „Das »Wissen« und die Expertise“ untersucht zunächst den Wissenschaftsbetrieb, in dem immer mehr der Kampf um Drittmittel aus dem Bereich der Wirtschaft im Mittelpunkt steht. Auch die systemische Forderung nach permanenten Publikationsnachweisen lässt einen aufgeklärten Wissenschaftsbetrieb mit offenen Fragestellungen abseits von Rücksichtsnahmen auf die Interessen der Geldgeber nicht mehr aufkommen.

Die jungen nach oben strebenden Universitätsgelehrten sind bereit, sich in einem System prekärer Arbeitsverhältnisse selbst auszubeuten, in der Hoffnung, es irgendwann bis ganz nach oben zu schaffen. Ein Überangebot an Akademikern, für die es keine Lehrstellen an den Universitäten gibt, schafft ständig neue Mitarbeiter in diesem Spiel.

Alles wird, in einem Wechsel von Verführung und absoluter Verschmelzung, daran gesetzt, die darin einbegriffene Person zunehmend abhängig zu machen. (S. 60)

Aber auch an der Spitze drängen sich die Professoren in ein strenges Korsett der permanenten Veröffentlichung von Texten, wobei Quantität im Vordergrund steht.

Im zweiten Kapitel „Die Wirtschaft und das Finanzwesen“ wird die Ausrichtung der Gesellschaft ganz auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und ihrer Magnaten aufgezeigt, von denen die politische Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung vorgegeben wird. Dabei kommen die verschiedensten gesellschaftlichen Akteure wie Experten, Medien und Gesetzgebung zum Einsatz, um die gewünschte Entwicklung als naturgegeben und alternativlos erscheinen zu lassen. Folgen dieser Entwicklung sind Habgier, Geiz und Rücksichtlosigkeit sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch zwischen den Ländern, wie am Beispiel der ausbeuterischen Verhältnisse in Afrika veranschaulicht wird.

Im dritten Kapitel „Kultur und Zivilisation“ wird der Frage nachgegangen, wie sich die Ökonomisierung der Gesellschaft die Psyche und Kultur der Menschen auswirkt. Dabei unterscheidet die Armen und Ohnmächtigen von den Reichen und Mächtigen auch, dass diese ihre Wut und Hilflosigkeit ständig unterdrücken und verdrängen müssen. Ebenso löst sich mit der Taxierung aller Tätigkeiten und Güter in Geld der unmittelbare Bezug zum Wert von Arbeit und Dingen auf und macht den Menschen selbst zu einem Teil dieses Wertesystems.

Alain Deneault sieht in der durchgehenden Ökonomisierung der Gesellschaft, in der die Reichen und Mächtigen das Maß vorgeben eine zunehmende Ausrichtung auf ein Mittelmaß, das jegliche Kreativität und Weiterentwicklung hemmt. Überaus engagiert kritisiert er dabei Entwicklungen in den zentralen gesellschaftlichen Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur und zeigt auf, wie destruktiv sich die zentrale Ausrichtung auf ökonomische Ziele in diesen Bereichen auswirkt.

Ein überaus lesenswertes Sachbuch, das trotz eines ein wenig verschachtelten Satzbaus und dem Schwerpunkt auf kanadische und französische Verhältnisse, gefährliche Tendenzen der Gegenwart aufzuzeigen weiß und zum Nachdenken anregt.

Alain Deneault, Die Herrschaft der extremen Mitte. Übers. v. Christian Drießen [Orig. Titel: La médiocratie]
Frankfurt a. Main: Westend Verlag 2021, 192 Seiten, 18,50 €, ISBN 978-3-86489-298-1

 

Weiterführende Links:
Westend Verlag: Alain Deneault, Die Herrschaft der extremen Mitte
Wikipedia: Alain Deneault

 

Andreas Markt-Huter, 13-04-2023

Bibliographie

AutorIn

Alain Deneault

Buchtitel

Die Herrschaft der extremen Mitte

Originaltitel

La médiocratie

Erscheinungsort

Frankfurt a. Main

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Westend Verlag

Übersetzung

Christian Drießen

Seitenzahl

192

Preis in EUR

18,50

ISBN

978-3-86489-298-1

Kurzbiographie AutorIn

Alain Deneault, in Kanada geboren, ist ein französisch-kanadischer Schriftsteller und Philosoph und promovierte 2004 an der Universität Paris VIII. Derzeit ist er Programmdirektor am Collége international de philosophie in Paris und Professor für Soziologie an der Université du Québec in Montréal.