Ilse Kilic / Fritz Widhalm, Nimm Dich in Acht vor dem lobenden Mund

Ilse Kilic und Fritz Widhalm, Nimm Dich in Acht vor dem lobenden MundDas Genre Verwicklungsroman behandelt mehrere Handlungsstränge, die an sogenannten Umsteigeknoten einen Wechsel in eine neue Erzählung ermöglichen. Der österreichische Verwicklungsroman gleicht ziemlich genau dem Netz der österreichischen Bundesbahnen, das heißt, er kann von einer Person mit einem einzigen Ticket innerhalb von ein paar Halbtagen abgefahren werden.

Ilse Kilic und Fritz Widhalm pflegen den Verwicklungsroman seit einem Vierteljahrhundert. Dabei treten Autorin und Autor vorgeblich unter dem Klarnamen auf, suchen aber ständig mit ihren alter Egos Kontakt, die sich Jana und Naz nennen. Ständig tauschen sie Rollen und Perspektiven, und wenn sie zwischendurch seltsam stimmig in einer ähnlichen Situation zu sitzen kommen, nennen sie diesen paradiesischen Zustand Janaz.

Mittlerweile ist der dreizehnte Teil sichtbar in den Buchregalen zum Vorschein gekommen, die Zahl dreizehn löst auch gleich eine Diskussion aus, ob es wegen dieser Zählwiese einen Einfluss auf die erzählte Geschichte gibt. Die beiden Erzählenden sind sich einig, dass man eine eigene Mathematik entwickeln muss, will man den Zahlen auf die Schliche kommen.

Die Faustregel fürs erste heißt: Dreizehn ist eine fröhliche Zahl.

Fröhliche Zahlen sind natürliche zahlen, bei denen die Summe der quadrierten einzelnen Ziffern am Ende eins ergibt. (7)

Was sonst ziemlich ungewöhnlich klingt, wenn man mit Amateuraugen auf die Mathematik schaut, ist plötzlich logisch, wenn man dieses Verfahren auf die Literatur anwendet. In der Literatur ergeben fröhliche Texte, sorgsam quadriert, eine Art logische Literaturgeschichte.

Ein Hauptstrang des Romans ist die österreichische Literaturgeschichte in Gestalt der Grazer Autorinnenversammlung. Der Trick, um diese Geschichte plastisch erscheinen zu lassen, besteht in der Rotverschiebung der Erinnerung. Der Roman „spielt“ auf zwei Zeitachsen, einmal in der jüngsten Gegenwart so um den April 2021 herum, als mit der Niederschrift des aktuellen Teils begonnen wurde, und als Stoff spielt das Ganze in den Jahren 1994 bis 1996.

Bewunderer dieser Erzählmethode notieren sich immer die beiden Zeitachsen und können es insgeheim nicht erwarten, dass diese demnächst zusammenfallen werden, also die Gegenwart, noch während sie geschieht, offiziell zur Vergangenheit wird.

Wenn literarische Personen etwas erleben, wird das Erlebte zur Literatur, andererseits wird die Literatur lebendig, wenn sie von echten Menschen verkörpert wird.

In diesem Lichte schreibt sich die Alltagsgeschichte Österreichs quasi von selbst als Literaturgeschichte. Die jeweiligen Episoden sind oft als Kleinessay, Abenteuersequenz oder Arbeitsprotokoll einer literarischen Aktion angelegt.

Die durchnummerierten Essay-Bausteine – im aktuellen Band surrt des Zählwerk von 780 bis 838b – lassen den Vergleich mit einem großen Gesetzeswerk aufkommen, wo ja auch allerhand Fälle in Paragraphen verkleidet sind, damit man sie leicht zitieren und auffinden kann.

Das Generalthema „nimm dich in Acht vor dem lobenden Mund“ warnt vor zu schnellem Lob, denn von selbst kommt gar nichts, und sogar die Muße muss man sich erarbeiten. In dieser Anspannung zwischen Arbeit und Muße ist der lobende Mund meist schädlich, weil er die Harmonie aufhält.

Für Zitier-Spezialisten sind es wahrscheinlich drei Ereignisse, die die beschriebene Kernzeit-Zeit von 1994 aufwärts prägen.

Einmal nimmt Naz eine Halbtagsstelle bei den Wiener Städtischen Büchereien an. Obwohl das Arbeitsabenteuer auf fünf Jahre befristet ist, hat Naz ganz schön zu tun, einen Sinn in dieser Arbeit zu finden, worin Bücher in Ruhelage gemanagt werden müssen. Das bibliothekarische Personal gilt überall auf der Welt als etwas Besonderes, nicht umsonst sagt man über Bibliothekende, dass sie meist einen schrägen Karriereweg hinter sich haben, ehe sie am Lesepult zu sitzen kommen.

Das zweite einschneidende Ereignis von Jana und Naz ist eine Musiktournee nach St. Petersburg, die geprägt ist von Aufbruchsstimmung und Improvisation, und aus heutiger Aufschreib-Sicht geradezu unvorstellbar dynamisch verläuft.

Und die dritte Kernhandlung arbeitet sich am Konzept des Verwicklungsromans selbst ab. Wann gab es dazu die erste Idee, warum dauert es bis zum ersten Band so lange? Was passiert wirklich, wenn die erinnerte Zeit sich mit der vergessenen zu überschneiden beginnt? – Der Roman führt stracks in die Zukunft, indem verkündet wird, dass es beim nächsten Band zu einem Verlagswechsel kommen wird.

Obwohl Geschichte ja nicht emotional sein soll, wird es doch sehr berührend, wenn das Glücksschweinmuseum zur Sprache kommt. Die Fotosammlung über die Glücksbringer Wiens verströmt Melancholie, aus der man nur schwer herausfindet.

Am Schluss kommt es zu einem Experiment. Der Vorarlberger Autor Günter Köllemann meldet sich aus seiner Versenkung in Vorarlberg und steuert ein paar Erzählparagraphen bei, Nummer 780 bis785. Jetzt sind die Leser schwer verunsichert, wie authentisch ist ein Verwicklungsroman, wenn sich die Kernbelegschaft erweitert?

Aber das ist das Konzept dieses Genres: Der Roman er ist eine offene Form und kann sich jederzeit erweitern und verengen. Er ist auf die Leser angewiesen, sie sind es schließlich, die zwischen den Zeiten sich selbst verwirklichen und mit der Literatur verwickeln müssen.

Ilse Kilic / Fritz Widhalm, Nimm Dich in Acht vor dem lobenden Mund. Des Verwicklungsromans dreizehnter Teil
Wien: edition ch 2023, 108 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-3-901015-77-9

 

Weiterführende Links:
edition ch: Verwicklungsroman
Wikipedia: Ilse Kilic
Wikipedia: Fritz Widhalm

 

Helmuth Schönauer, 04-02-2023

Bibliographie

AutorIn

Ilse Kilic / Fritz Widhalm

Buchtitel

Nimm Dich in Acht vor dem lobenden Mund

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Edition ch

Reihe

Des Verwicklungsromans dreizehnter Teil

Seitenzahl

108

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-3-901015-77-9

Kurzbiographie AutorIn

Ilse Kilic, geb. 1958 in Wien, und Fritz Widhalm, geb. 1956 in Gaisberg, leben in Wien.