David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre

david graeber, schuldenWarum Schulden? Was macht diesen Begriff so seltsam mächtig? […] Aber niemand scheint genau zu wissen, was es damit auf sich hat, oder dar über nachzudenken. Gerade weil wir nicht wissen, was Schulden sind − die Dehnbarkeit des Begriffs ist zugleich die Grundlage seiner Macht. Wenn die Geschichte etwas zeigt, dann dies, dass es keine bessere Methode gibt, auf Gewalt gegründete Beziehungen zu verteidigen und moralisch zu rechtfertigen, als sie in die Sprache von Schuld zu kleiden – vor allem, weil es dann sofort den Anschein hat, als sei das Opfer im Unrecht. (S. 11)

Der englische Anthropologe David Graeber geht der außergewöhnlichen wissenschaftlichen Frage nach dem Wesen von Schulden als Relation im Beziehungsgeflecht menschlicher Gesellschaften nach. Dabei spannt er einen Bogen von mehr als 5.000 Jahren, von den ersten nachweisbaren Schulden bis in unsere Gegenwart, in der Schulden die gesellschaftlichen Verhältnisse ganzer Staaten dominieren können.

Zunächst wird das Verhältnis zwischen Schulden und moralischer Schuld näher beleuchtet, die eine der Grundlagen für das moderne Verständnis von Schulden in der Gegenwart bildet. In weiterer Folge wird der Mythos vom Tauschhandel widerlegt, der die Anfänge der Geldwirtschaft einleiten soll und traditionell die Wirtschaftsgeschichte prägt. Diese Erzählung von der Entstehung des Tauschhandels entspricht vielmehr einer Fantasievorstellung, die sich in der realen Geschichte nirgends nachweisen lässt.

Vielmehr stehen Schulden bereits in den Anfängen in enger Beziehung mit Macht und Gewalt. So werden in allen indoeuropäischen Sprachen die Wörter für „Schulden“ synonym mit „Schuld“ und „Sühne“ gebraucht und stehen damit in einem engen Kontext zu religiösen Vorstellungen und Strukturen. Dabei werden zahlreiche komplexe Verstrickungen zwischen Moral, Schuld und persönlichen Verpflichtungen untersucht, um die moralischen Grundlagen ökonomischer Beziehungen aufzudecken.

Anhand zahlreiche Beispiele aus verschiedenen Kulturen wird aufgezeigt, dass es sich nur bei manchen menschlichen Interaktionen um Formen des Tauschs handelt und wenn es darum ging, die eigenen Schulden nicht begleichen zu können, Frauen eine bedeutende Rolle spielen. So wurden in walisischen Gesetzen auch Frauen als Währungseinheit betrachtet, die als Dienerinnen weitergegeben worden sind. Damit kommen die Macht des Gläubigers und die Ohnmacht des Schuldners zum Ausdruck, der seine Ehre verliert, weil er seine Frau und Kinder nicht mehr schützen kann.

Die weiteren Ausführungen setzten sich mit der historischen Entwicklung des Schuldenwesens vom relativ gleichzeitigen Aufkommen des Geldes zu Beginn der sogenannten Achsenzeit (800 v. – 600 n. Chr.) im Mittelmeerraum, in China und Indien bis in die Gegenwart auseinander. Die Geschichte der Schulden zeigt sich dabei nicht als Umwandlung einer auf Schulden beruhenden Wirtschaftsordnung in eine auf Zinsen sich stützenden Ordnung, sondern vielmehr als die Geschichte der Umwandlung moralischer Netzwerke durch die Einmischung einer persönlichen Staatsmacht.

David Graeber gelingt es, mit einer tiefgründigen Analyse mit Beispielen aus der Geschichte und indigener Gesellschaften, die Wurzeln von Schulden, ihrer Verbindung mit Schuld und Moral sowie mit Macht und Gewalt aufzuzeigen und ihren Weg bis in unsere Gegenwart zu verfolgen. Dabei zeigt er auf, welche Gefahren Schulden und Zinsen im Laufe der Geschichte für das Zusammenleben der Menschen bedeutete und wie drohende gesellschaftliche Zusammenbrüche immer wieder durch Schuldenerlässe verhindert werden mussten. Ein ebenso lesenswertes wie informatives Sachbuch jenseits aller dogmatischen ökonomischen Theorie.

David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, übers. v. Ursel Schäfer / Hans Freundl / Stephan Gebauer [Orig. Titel: Debt. The first 5,000 Years]
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2022, 544 Seiten, 15,95 €, ISBN 978-3-608-98510-8

 

Weiterführende Links:
Klett-Cotta Verlag: David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre
Wikipedia: David Graeber (engl.)

 

Andreas Markt-Huter, 05-09-2023

Bibliographie

AutorIn

David Graeber

Buchtitel

Schulden. Die ersten 5000 Jahre

Originaltitel

Debt. The first 5,000 Years

Erscheinungsort

Stuttgart

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Klett-Cotta Verlag

Übersetzung

Ursel Schäfer / Hans Freundl / Stephan Gebauer

Seitenzahl

544

Preis in EUR

15,95

ISBN

978-3-608-98510-8

Kurzbiographie AutorIn

David Graeber (1961–2020) war Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Autor der Weltbestseller „Schulden“, „Bullshit Jobs“ und „Bürokratie“ und ein Vordenker von „Occupy Wall Street“. Er starb völlig überraschend im. September 2020 in Venedig. Sein letztes großes Werk „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ erschien postum im Frühjahr 2022.