Drago Glamuzina, Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

drago glamuzina, der zweite hauptsatz der thermodynamikUnterliegt die berüchtigte heiße Luft beim Diskutieren dem sogenannten thermodynamischen Gesetz? Dieser zweite Hauptsatz sagt im Volksmund ja nicht viel mehr, als dass die heiße Luft beim Reden immer gleich warm bleibt.

Drago Glamuzina nimmt für seinen Roman über eine kroatische Intellektuellenszene einen sehr aufgeblasenen Titel, weil es zum Wesen dieser Spezies gehört, aufgeblasen zu reden. Gleichzeitig dient das Zitieren des Wärmegesetzes als sogenannte Hirnschranke gegen allzu ungebildete Lektüre. Wer sich also auf diesen Roman einlässt, kann sich als halbwegs intellektuell fühlen, zumal sich der Titel mit einer KI recht schnell dechiffrieren lässt.

Das Thema könnte vielleicht lauten: Wie kommen 40-Jährige mit den Gefühlen, dem Intellekt und der Politik zurecht, wenn sie unter physikalischen Laborbedingungen eines Festivals in eine Denker-Blase gesteckt werden.

Das Arrangement ist ansprechend witzig. Der berühmte amerikanische Autor Jonathan Franzen ist auf Literaturtrip durch Europa und schaut bei einem kleinen Festival in Kroatien vorbei. Exquisite Lokalgrößen haben sich vorbereitet, mit Franzen in einen großen Diskurs zu treten.

Der Start ist vielversprechend. Jemand erzählt von einem Gedicht, das anlässlich des Absaufen eines Hundes an einem gefrorenen See entstanden ist. Das Gedicht gerät vortrefflich. Aber was ist mit dem Hund? – Dieser wird unbedeutend, sobald das Gedicht gelungen ist. So ist eben der Zusammenhang zwischen Realität und Literatur.

Bald packen die anwesenden Künstler, Kritiker und ähnliches Personal ihre Ideen aus und stellen einen ersten Bezug zum amerikanischen Dichtergenie her. Dessen These besteht ja darin, dass man in der Geschichtsschreibung und Familienforschung so lange korrigieren muss, bis es halbwegs passt. Sein Hauptwerk heißt folglich „Korrekturen“.

Jonathan Franzen wächst sich inzwischen zu einem Godot-Motiv aus, er kommt einfach nicht. Die Truppe gerät darüber in einen alkoholischen und psychodelischen Rausch, Partydrogen schaffen schnell jenes Klima, das für Diskussionen ohne Ergebnis geeignet ist. Man kann sich alles an den Kopf werfen und hat die Garantie, dass es anderntags vergessen ist.

Die Partygäste wickeln wie beim Flaschendrehen ihre Geschichten ab. Manche haben ein Referat auswendig gelernt, andere ihr Leben zu einem Kunstwerk verpackt und in günstigen Farben angemalt, dritte wiederum geraten in den Summton von Vorlesungen, sobald sie den Mund aufmachen.

Das anstehende Dutzend Geschichten erinnert ein wenig an Goethes Novellensammlung von den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“.

Alles zwischen uns ist zu kompliziert, um im Gleichgewicht zu sein. (24)

„Um sie verlassen zu können, musste ich eine ganze Welt abtöten, die wir geschaffen hatten.“ ( 29) – In der akademischen Welt tut man sich schwer, Gefühle zu messen und zu beschreiben. Der gemeinsame Nenner besteht vielleicht darin, dass alle um die vierzig und vom Leben gebeutelt sind. (40)

Als Leitmotiv taucht eine leere Wohnung auf, die daran erinnert, dass es bei der Liebe eigentlich um ein Dach über dem Kopf geht. Drumherum tun sich jedoch Abgründe auf, wenn Vergewaltigungen von Jungs in einem Kellerabteil zur Sprache kommen, eine Frau ihren Mann als Voyeur analysiert, ein anderes Paar plötzlich voneinander Geheimnisse erfährt, die sie trotz gegenteiligen Versprechens einander nie verzeihen können.

Jemand erklärt Facebook als Ursache für Beziehungsstress, denn „Facebook erinnert an schlechte Menschen“. (83) Natürlich wird an diesem Abend auch die Prostitution in allen Nuancen vorgestellt, eine Frau macht sogar eine „Schlampenanalyse“.

Die akademisch Verwixten vergleichen Sex mit Zeitgeschichte, sprechen über ein Buchprojekt zum Bosnienkrieg und nehmen sich Literaten vor, die knapp an der Kante zum Faschismus stehen. Als Ahnvater für Kollaboration gilt dabei Knut Hamsun, bald wird er ergänzt mit Ezra Pound, Peter Handke und Louis-Ferdinand Céline. (113) Kann man das Werk von der politischen Anschauung trennen? – Die alte Gretchenfrage.

Spät in der Nacht sind sie alle freigelegt: „Super-egos, Frustrationen, kaputte Charaktere.“ (136) Die Gewalt zeigt sich zuerst nur als verbales Rumoren, ehe sie im Morgengrauen handfest wird. Im Bus wird jemand von einer Bande zusammengeschlagen, das Erzählte wird zu einer neuen Realität.

Drago Glamuzina erzählt physikalisch einwandfrei von einem Nullsummenspiel, während die Helden ihre Psychen freilegen. In gleicher Weise werden freilich fruchtlose Diskussionen über den Literaturbetrieb freigelegt. Und schließlich beginnt man zu ahnen, dass die Zeitgeschichte ähnlich abläuft. Nicht umsonst sind alle Protagonisten Vierzigjährige wie das aktuelle Kroatien.

Drago Glamuzina, Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Roman. A. d. Kroat. von Klaus Detlef Olof [Orig.: Drugi zakon termodinamike, Zagreb 2021.]
Bozen, Wien: Folio Verlag 2024, 172 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-85256-888-1

 

Weiterführender Link:
Folio Verlag: Drago Glamuzina, Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

 

Helmuth Schönauer, 06-12-2023

Bibliographie

AutorIn

Drago Glamuzina

Buchtitel

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

Originaltitel

Drugi zakon termodinamike

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Klaus Detlef Olof

Seitenzahl

172

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-85256-888-1

Kurzbiographie AutorIn

Drago Glamuzina, geb. 1967, lebt in Zagreb.

Klaus Detlef Olof, geb. 1939 in Oebisfelde, lebt in Zagreb und Pula.