Schreiben, Lesen und Lesenlernen im Mittelalter 1

lesender mönchMit dem Beginn des Mittelalters gingen gesellschaftliche Umbrüche einher, die in vielen Regionen Europas Lesen und Schreiben wieder eine Tätigkeit von Spezialisten werden ließen. Doch im Laufe der Jahrhunderte erleben die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens eine Renaissance und zunehmend weitere Verbreitung.

Lesen und Schreiben im Mittelalter war zunächst auf die einzigen verfügbaren schriftlichen Quellen in lateinischer Sprache beschränkt, die das grenzüberschreitende Medium der mündlichen und schriftlichen Kommunikation der geistigen Elite in Westeuropa bildete. Alle Wissensgebiete der Antike von Philosophie über Theologie, Mathematik, Medizin, Historiographie, Naturwissenschaften und Dichtung lagen auf Latein vor und das Lateinische bildete wiederum die Grundlage für das Lesen und Schreiben in den verschiedenen regionalen Sprachen Europas.

So entwickelte sich das Wort „lesen“ selbst aus dem Wort „lesan“ in der Bedeutung von auflesen und aufsammeln von Früchten, Dingen etc. Erst im Althochdeutschen wurde damit auch das lesen von Wörtern im Sinne von auflesen von Buchstaben verbunden und damit um die lateinische Wortbedeutung von „legere“ erweitert, was auflesen, sammeln und (vor-)lesen bedeutet. In Italien konnte sich das spätrömische Urkundenwesen bis weit in das Mittelalter hinein halten, auch blieb die Fähigkeit zu schreiben, auf verschiedene Stände verteilt. Anders zeigten sich die Verhältnisse nördlich der Alpen, wo sich das Lesen und Schreiben zu einem Monopol der Klöster entwickelte. (Vgl. Griese/Henkel, S. 720)

Lese- und Schreibunterricht im Mittelalter

Die lateinische Sprache wurde bis zu Beginn des 12. Jahrhunderts nahezu ausschließlich in den Lateinschulen der Klöster und Domstifte vermittelt, die später um Lateinschulen der Kommunen ergänzt wurden. Der Elementarunterricht zur Vermittlung einer grundlegenden Lese- und Schreikompetenz begann mit den sogenannten Tabula, meist mit den sieben Bußpsalmen, Pater noster, Credo und Ave-Maria. Daran anschließend folgten die Elementargrammatik des Donat und Schultexte zur Vermittlung sprachlicher Kompetenzen sowie sittlicher und moralischer Werte, zu denen spätantike „Disticha Catonis“, Fabeln oder Gesprächsbüchlein zählten. Neben der Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenzen standen auch der Lateinunterricht und das eigenständige Verfassen von Texten selbst im Mittelpunkt des Unterrichts. (Vgl. Griese/Henkel, S. 720)

Auch wenn in der Mitte des 9. Jahrhunderts noch einige Laien das Lesen und Schreiben beherrschten, entwickelte sich das Schreibgeschäft zunehmend zu einem Monopol der Geistlichkeit, nachdem die antiken Bildungseinrichtungen und damit die öffentlich organisierte Wissensvermittlung verschwunden waren. Die umfangreiche Herstellung von Büchern in der Zeit der Karolinger erfolgte in den Skriptorien der Klöster und der Domschulen, aber auch die Aufgaben der königlichen Kanzlei wurde von Geistlichen übernommen. Mit dem Verlust einer weit verbreiteten Schriftlichkeit ging die Kursivschrift, als Kennzeichen schnellen Schreibens, während der karolingischen Renaissance verloren. Auch die Art zu Schreiben hatte sich damit verändert und glich nicht mehr dem flüssigen antiken Schreiben, indem die Buchstaben einzeln auf das Pergament gesetzt wurden. (Vgl. Alfred Wendehorst, S. 13-15)

schreibender mönch

Die Herstellung von Büchern in der Zeit der Karolinger war eine der wichtigsten
Aufgaben der Mönche in den Skriptorien der Klöster und der Domschulen.

Aussagekräftiger zeigt sich die Quellenlage für die Einrichtungen, die das Lesen und Schreiben vermittelten. Dazu zählten bis in die Frühe Neuzeit hauptsächlich die Lateinschulen der geistlichen Institutionen oder Kommunen. Für die Mitglieder der kirchlichen Einrichtungen waren Lese- und Schreibkompetenzen verpflichtend, auch wenn diese vor allem im 13. und 14. Jahrhundert oft kritisiert werden. Geistliche übernahmen im Mittelalter häufig für den Adel die anfallenden Schreibarbeiten im Bereich des Urkunden- und Verwaltungswesen sowie der Historiographie.

Ab 1400 entstehen allmählich Schulen, die Lesen und Schreiben in der Volkssprache vermitteln und vermehrt auf praktische Bedürfnisse ausgerichtet sind. Ausgehend von den Lateinschulen entstehen ab dem 12. und verstärkt ab dem 14./15. Jahrhundert Universitäten, die in den „Kompetenzen des Lesens, Erklärens und Argumentierens in den Trivium-Fächern der Artistenfakultät schulen und für die höheren Fakultäten, insbesondere die Theologie / Philosophie und die Rechte, bereitstellen.“ (Griese/Henkel S. 721)

Lesen im klerikalen Bereich

In den Klöstern spielte das Lesen heiliger Texte zur Meditation bereits seit Anfang des 6. Jahrhunderts als Teil der Benedictus-Regel eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich um ein wiederholendes, halblaut murmelndes Wiederkäuen vor allem von Worten aus der Heiligen Schrift oder aus Texten der Kirchenväter, die als eine „geistliche Speise“ verstanden wurden. In der Ordensregel findet sich u.a. eine tägliche Tischlesung, wo der gesamte Konvent einem Vorleser zuhört. Inhalte der Tischlesungen waren Auszüge aus den Ordensregeln, Messlesungen des Tages oder Legenden eines Tagesheiligen. Diese Form der Lesungen blieben in den Klöstern bis in die Gegenwart üblich. Zur Lesepraxis in den Klöstern gehörte auch ein sich wöchentlich wiederholender Gesang des gesamten Psalters in den „acht Psalmtönen“ und die Lesung des Evangeliums in der Messe in den „Lektionstönen“. (Griese/Henkel S. 724)

Um Texte nach der Form, dem Inhalt und dem Sinn zu erschließen, orientierten sich die Lateinschulen mit ihren Lesetechniken an den Schulen der Spätantike. Im späteren Mittelalter wurden die Lateinschulen zudem durch die Artistenfakultäten an den Universitäten ergänzt. Gelesen wurden Klassiker der römischen Antike wie Cicero, Vergil, Horaz, Ovid, Seneca u.a. sowie Autoren der Spätantike wie Boethius. Die verwendeten Texte wurden durch verschiedene Ergänzungen, Erläuterungen, Informationen und meist am Textrand notierte Kommentare ergänzt, die Hilfen zum Verständnis oder im Bereich der Grammatik oder Rhetorik bieten sollten. Häufig wurden den Texten auch inhaltliche Zusammenfassungen und Hintergrundinformationen zu Autor und Werk vorangestellt. Lesen diente in diesem Bereich dazu, Wissen zu verschiedenen Bereichen sowie Grammatik und Rhetorik zu erlernen und die lateinische Sprache schriftlich und mündlich im Dienste einer weiteren umfassenden Bildung zu vertiefen. (Vgl. Griese/Henkel S. 725)

Neben dem Lesen klassischer lateinischer Texte entstanden im 12. Jahrhundert auch eigene Schriften wie die großen „Summenwerke“. In diesen wurden die zunehmend umfangreicheren und komplexeren Wissensbereiche thematisch ausgerichtet, aufbereitet, strukturiert und zusammengefasst. Dazu zählen vor allem Auseinandersetzungen mit der Bibel, den Texten der Kirchenväter sowie dogmatische Themen wie z.B. Trinität, Christologie, Schöpfung und Sakramente. Die Summen als Hilfsmittel der intellektuellen Tätigkeit spielten bis ins 16. Jahrhundert eine große Bedeutung. Lesen hatte nicht mehr die vertiefende Erfassung eines Textes zum Ziel, sondern diente als Hintergrundwissen, Arbeitsgrundlage und Referenz bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Themenbereichen. (Vgl. Griese/Henkel S. 726f)

lesung des evangeliums

Zur Lesepraxis in den Klöstern gehörte der sich wiederholender Gesang
des gesamten Psalters und die Lesung des Evangeliums.

Lesenlernen außerhalb der klerikalen Welt

Ab dem 12. Jahrhundert begannen zunächst in Italien und Frankreich - zunehmend aber auch im übrigen Europa - Laien, die nicht mehr an kirchliche Aufgaben oder Ämter gebunden waren, an den Universitäten zu studieren. Viele begnügten sich dabei mit der grundlegenden Ausbildung in der Artistenfakultät, manche setzten das Studium aber auch an einer der höheren Fakultäten fort, wobei vor allem Jura und Medizin zahlreiche weltliche Tätigkeitsfelder eröffneten. So spielten die juristisch gebildeten, gelehrten Räte eine wichtige Rolle beim Aufbau der Territorialstaaten im Spätmittelalter.

Der akademische Unterricht erfolgte in Form von Vorlesungen, in denen Fragen zu spezifischen Themen strukturiert, erläutert und anschließend diskutiert wurden. Dazu stand den Schülern eine große Auswahl an lateinischen Schriftüberlieferungen zur Verfügung. In der Renaissance eröffnete sich über italienische Autoren zusätzlich ein breites Spektrum an klassischer griechischer Literatur, die im 15. Jahrhundert auch außerhalb Italiens Verbreitung fand. (Vgl. Griese/Henkel S. 726)

Lesestoffe im Mittelalter

Das Schrifttum des Mittelalters zeigte sich ebenso vielschichtig wie vielfältig. Die Heilige Schrift und Texte für Stundengebete und Messen gehörten ebenso dazu, wie Frömmigkeitsliteratur oder die zunehmend komplexer werdenden Stoffe der Theologie. Daneben wurden literarische Texte der römischen Antike und seit dem 12. Jahrhundert auch Rezeptionen von Werken des Plato und Aristoteles zunächst in lateinischer Übersetzung gelesen. Es finden sich zahlreiche Werke zu den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen Theologie, Philosophie, Recht, Medizin, Naturwissenschaft, Mathematik, Musik und Geschichte sowie Fachliteratur der Artes Liberales. Ab dem 11. Jahrhundert lassen sich auch die Anfänge der sogenannten „schönen Literatur“ ausfindig machen.

Literatur in der Volkssprache orientierte sich bis zum 13./14. Jahrhundert an der lateinischen Schriftkompetenz wie sie Beispielsweise in Italien durch Dante, Petrarca und Boccaccio vertreten wurde. Im Bereich der deutschen Sprache finden wir ein Evangelienbuch des Benediktiners Otfried von Weißenburg, das um 865/70 in deutschen Versen geschrieben und mit einer lateinischen Widmungsrede versehen wurde. Dabei weist Otfrid auf die Schwierigkeiten hin, die phonetischen Eigenheiten des Deutschen, das sich vor allem durch ein fremdartiges Klangbild vom Lateinischen unterschied, mit den lateinischen Schriftzeichen wiederzugeben. Geriet die althochdeutsche Literatur im 10./11. Jahrhundert zwar in Vergessenheit, entstanden in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts Werke, die sich an den meist leseunkundigen Adel richteten und sich an den Romanen und der Lyrik Frankreichs orientierten. (Vgl. Griese/Henkel S. 728)

Zu den bekanntesten Dichtern in deutscher Sprache gehörten Walther von der Vogelweide, Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach. Ihre im Auftrag des Adels verfassten Romane in deutschen Versen waren zum Vorlesen bei gesellschaftlichen Anlässen gedacht.

02.3_Eneide_Veldeke.jpgSzenen aus dem zwischen 1170 und 1188 enstandenen Eneasroman des Heinrich von Veldeke aus einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert. Wikipedia: Eneide des Veldeke

 

Als Lesestoff für junge Frauen und Männer wurden Texte empfohlen, die beispielhaft für gutes Handeln standen, wobei Mädchen vorbildliche Frauengestalten aus der Antike wie Andromache, Penelope aber auch aus dem Kreis der Artus- oder Minneromane, während für Jungen die Helden aus dem Artussagenkreis als Vorbild dienen. Im 13. Jahrhundert erweiterte sich der Lesestoff um Zusammenstellungen von Weltchroniken bis schließlich alle Sachbereiche auch in der Volkssprache als Lesestoff zugänglich wurden. Im 15. Jahrhundert setzte sich ein Großteil der Texte noch aus geistlicher Literatur zusammen. Dabei bewirkten Texte deutscher Mystiker wie z.B. Metchhild von Magdeburg oder Meister Eckhart eine neue Form des persönlichen und individuellen Lesens in der Volkssprache, die ein sich Versenken in das Wort forderte. (Vgl. Griese/Henkel S. 728f)

Das Interesse an Literatur finden sich in höfischen Kreisen besonders häufig für Frauen dokumentiert, wobei die Lesefähigkeit vor allem mit Hilfe des Psalters geübt wurde. Neben geistlicher Literatur waren aber auch Liebesgeschichten wie z.B. der Eneasroman oder der Parzivalroman sehr beliebt. Dass dem Lesen auch bei adeligen Männern ein wichtiger Stellenwert zukam, lässt sich an den Heldendarstellungen erkennen, in denen Ritter als gebildet oder Lesend gezeigt wurden, wie z.B. Parzival, der Arme Heinrich, u.a. Im späten Mittelalter erhielt das Lesen durch schriftliche Vertragsregelungen und schriftlich festgehaltenen Rechtsgrundlagen wie den Sachsenspiegel und Schwabenspiegel, Stadtrechte, Bergrechte u.a. zunehmend auch im Bereich der Verwaltung und Rechtsprechung einen kräftigen Aufschwung. Daneben kommen auch Texte wie Rezeptbücher, Handwerksanweisungen u.a. Texte für den Alltag verstärkt auf. (Vgl. Griese/Henkel S. 730-733)

 

Verwendete Literatur:

Sabine Griese / Nikolaus Henkel: Funktionen und Leistungen des Lesens - Mittelalter. In: Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Hsg. von Ursula Rautenberg / Ute Schneider, Berlin 2015, S. 719-739
Nathalie-Josephine von Möllendorf‚ Lesefähigkeit‘ im späten Mittelalter
Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?

 

>> Schreiben, Lesen und Lesenlernen in der Antike: 1. Mesopotamien und Ägypten
>> Schreiben, Lesen und Lesenlernen in der Antike: 2. Antikes Griechenland und Rom
>> Schreiben, Lesen und Lesenlernen im Mittelalter 2

 

Andreas Markt-Huter, 03-06-2024

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