Schreiben, Lesen und Lesenlernen im Mittelalter 2
Mit dem Beginn des Mittelalters gingen gesellschaftliche Umbrüche einher, die in vielen Regionen Europas Lesen und Schreiben wieder eine Tätigkeit von Spezialisten werden ließen. Doch im Laufe der Jahrhunderte erleben die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens eine Renaissance und zunehmend weitere Verbreitung.
Der verbreiteten Vorstellung, dass das Mittelalter eine Zeit des Analphabetismus gewesen sei, widersprechen die zahlreichen Darstellungen, auf denen Lesen eine wichtige Rolle spielt. Die Abbildung von Büchern und Lesenden finden sich zunächst auf Heiligenbildern, wenden sich im 14. und 15. Jahrhundert aber zunehmend auch dem profanen Bereich zu. Zur Schau gestellt wurden einerseits eine Lesekompetenz und andererseits eine persönliche Praxis der Frömmigkeit. (Vgl. Nathalie-Josephine von Möllendorf, S. 77-80)
Lesefähigkeit im späten Mittelalter
Die Gemälde geben damit auch ein aufschlussreiches Bild der Praxis des Lesens und Schreibens, der Studierzimmer und Schreibutensilien. Dargestellt wurden aber nicht nur Männer, sondern auch lesende und schreibende Frauen wie z.B. Meister der Cité des Dames‘ Darstellung um 1410-1414 von „Christine de Pisan in ihrer Studierstube“ oder Roger van der Weydens „Fragment mit der lesenden Maria Magdalena" aus dem Jahr 1438. Auf Robert Campins Bildnis „Maria lactans“ aus dem Jahr 1430 wird die stillende Maria gezeigt, mit einem aufgeschlagenen Buch in Griffweite. (Vgl. Nathalie-Josephine von Möllendorf, S. 79-81)
In verschiedenen Briefen dieser Zeit lassen sich Anweisungen über den empfohlenen Textgebrauch und empfohlene Lektüre finden. „Dann solltest du einige gute holländische Bücher lesen, nicht weltliche Geschichten von Schlachten und Kämpfen oder ähnliches, sondern heilige Schriften, gute fromme Bücher, die dein Herz Gott zuwenden lassen.“ (Vgl. Nathalie-Josephine von Möllendorf, S. 82; übers. A.M.-H.)
Aus den Ratschlägen für das Lesen zeigt sich, dass große Teile jeden Tages, beginnend um 5 Uhr früh morgens bis in den Abend hinein, mit spezifischen Leseeinheiten ausgefüllt sein sollten, die sich aus Lesen und Meditation zusammensetzen. Die monastische Lesetechnik der ruminatio, bei der die einzelnen Worte wiederholt wurden, und die Meditation sollten dabei helfen, ein tieferes Verständnis für die religiösen Texte zu gewinnen und damit Gott näher zu kommen. Alternativ zum Lesen bot sich auch das Hören religiöser Schriften an, dabei galten auch Analphabeten als lesekompetent, wenn sie imstande waren, vorgelesene Texte zu verstehen und wiederzugeben. (Vgl. Nathalie-Josephine von Möllendorf, S. 82 f)
Die französische Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan
liest vor einer Männergruppe. Wikimedia: Christine de Pizan - Cathedra
Die Verbreitung der allgemeinen Lese- und Schriftkompetenz lässt sich auch anhand der Anzahl der überlieferten schriftlichen Zeugnisse abschätzen. Es finden sich Büchern, die in direkten Zusammenhang mit dem Lesen standen und in großer Zahl weitervermittelt wurden. Dazu gehören Schriftlesungen zum Kirchenjahr ebenso wie Legendenbücher zum Jahreslauf, Bücher für die geistliche Andacht und Meditation aber auch kanonische Texte zum Lesestudium. Mit der Entwicklung des Papiers als kostengünstigen Beschreibstoff im 14. Jahrhundert gelang es im 15. Jahrhundert, die Produktion von Bücher rapide zu, was schließlich mit der Erfindung des Buchdrucks zusätzlich gesteigert werden konnte. Daraus lässt sich eine zunehmende Lesekompetenz nur erahnen, weil ca. 90 % der Schriftwerke in lateinischer Sprache und nur 10 % in den europäischen Volkssprachen geschrieben waren. Im deutschen Sprachraum werden erst im Laufe des 17. Jahrhunderts. in etwa gleichviele Bücher in deutscher wie lateinischer Sprache gedruckt. (Vgl. Griese/Henkel S. 723)
Auch wenn das kanonische Recht von der Geistlichkeit keine übermäßige Bildung verlangte, wurde zumindest theoretisch gefordert, dass kein „illiteratus“ Priester werden könne. Dennoch lassen sich im Mittelalter bis ins 14. Jahrhundert hinein sowohl nördlich als auch südlich der Alpen eine große Anzahl an Mönchen und Priestern ausmachen, die weder lesen noch schreiben können. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass nur ein kleiner Teil der Bischöfe des Früh- und Hochmittelalters die Schreibkunst beherrschte. So bekannte Erzbischof Friedrich II. von Salzburg persönlich nicht schreiben zu können. Auch wenn sich fehlende Schreibkenntnisse nicht als Grund für eine Absetzung aus dem Amt belegen lassen, galten Lesefähigkeiten vom Subdiakon aufwärts obligatorisch verpflichtend. (Vgl. Alfred Wendehorst, S. 22-25)
Doch auch bei den Dichtern des Mittelalters lässt sich zeigen, dass viele des Schreibens unkundig waren wie z.B. Ulrich von Lichtenstein und selbst die bekannten Wolfram von Eschenbach und selbst noch Oswald von Wolkenstein dürften wahrscheinlich weder lesen noch schreiben haben können. Im Gegensatz dazu betonen dichtende Ritter wie Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und der bürgerliche Gottfried von Straßburg selbstbewusst ihre Lesefähigkeiten. Dennoch hatten die Kenntnisse der Schrift im deutschen Rittertum im Mittelalter aber auch darüber hinaus generell keinen übermäßig hohen Stellenwert. (Vgl. Alfred Wendehorst, S. 25-27)
Der berühmte spätmittelalterliche Südtiroler Sänger, Dichter und Politiker
Oswald von Wolkenstein dürfte wahrscheinlich weder
lesen noch schreiben haben können. Wikimedia: Oswald von Wolkenstein
Einen besonderen Stellenwert nahm im Mittelalter die religiöse Minderheit der Juden ein, die wie in früheren Zeiten in den Synagogen hebräisch lesen und schreiben gelernt hatten. Zudem wurden für die jüdischen Urkunden des Mittelalters kein Siegel, sondern weiterhin die Urkunden mit den Namensunterschriften von Aussteller und Zeuge beglaubigt. (Vgl. Alfred Wendehorst, S. 27f)
Im Bereich der Händler und Kaufleute spielen schriftliche Aufzeichnungen naturgemäß auch im Mittelalter eine wichtige Rolle. Wer nicht selbst lesen oder schreiben konnte, nahm die Dienste eines Klerikers in Anspruch. Im späten 13. Jahrhundert kommen im Bereich der Hanse Geschäftsbücher auf und auch die öffentliche Verwaltung der Herrscher erfährt einen stetigen Aufschwung und ab der Regierungszeit Karls IV. eine zusätzliche Beschleunigung. Vor allem bei den Kaufleuten wurde die Fähigkeit Lesen, Schreiben und Rechnen zu können zu einer allgemein notwendigen Voraussetzung ihrer Tätigkeit. (Vgl. Alfred Wendehorst, S. 28f)
Wie aus Briefen, Anleitungen und Bildern hervorgeht, scheint als Lesekompetenz grundsätzlich die Fähigkeit verstanden gegolten zu haben, den Inhalt religiöser Texte zu verstehen, darüber sprechen und daraus Erkenntnisse erzielen zu können. Dazu diente Lesen, Schreiben und das verständige Betrachten von Bilder als Hilfsmittel und Fertigkeit, die für sich aber keine eigenständigen Fähigkeiten, sondern mehr eine „devotionale Frömmigkeitspraxis“ darstellten, die ganz auf das Verstehen der Inhalte ausgerichtet war. (Vgl. Nathalie-Josephine von Möllendorf, S. 86)
Welche Herrscher konnten lesen und schreiben?
Grundsätzlich lassen sich aus den vorhandenen Quellen über das Ausmaß der Lese- und Schreibkompetenzen im Mittelalter nur Annäherungen erzielen, die sich an persönlichen Zeugnissen, Institutionen und den vorhandenen schriftlichen Überlieferungen orientieren. Dokumentiert sind meist Einzelfälle, die sich jedoch nicht einmal für die herrschende Schicht verallgemeinern lassen.
Den Vollziehungsstrich Karls des Großen bildet das als ‚A‘ zu lesende
kleine ‚y‘ innerhalb der Raute. Wikimedia: Signatur Karls des Großen
Die umfangreiche ausgebaute Bürokratie der späten römischen Kaiserzeit setzte eine umfangreiche schriftliche Kommunikation voraus, die in einem organsierten aber privaten Unterricht erlernt werden musste. Die Gebrauchsschrift, also kursive Schrift war in der Spätantike dermaßen verbreitet, dass die persönliche Unterschrift als Beglaubigung von Privaturkunden galt. Seit dem oströmische Kaiser Justinian I. war für Urkunden die eigenhändige Unterschrift von Rechts wegen gefordert. Nur selten findet sich auf Dokumenten das Handzeichen, das Schreibunkundigen vorbehalten blieb. (Vgl. Alfred Wendehorst, S. 9f)
Nach der Machtübernahme germanischer Herrscher im Weströmischen Reich standen diese vor dem Problem, die römische Urkunde zwar als Beglaubigungsmittel zu übernehmen, ohne aber selbst Schreiben zu können, wie z.B. die Ostgotenkönige Odoaker oder Theoderich der Große. Theoderich soll sich als Behelf für die Bestätigung von Urkunden eine Schablone aus Goldblech anfertigen haben lassen.
Die Merowingerkönige hingegen konnten schreiben und sollen ihre Urkunden selbst unterschrieben haben, womit die Namensunterschrift als Beglaubigungsmittel für Diplome bestehen blieb. Mit der Machtübernahme der Karolinger tritt ein großer Bruch bei der Lese- und Schreibfähigkeit der Herrscher ein. Karlmann unterschrieb seine Urkunden mit einem Kreuz, Pippin ergänzte sein Monogramm mit dem sogenannten Vollziehungsstrich, dem die individuelle, schwer imitierbare Note fehlte. Damit übernahm das Siegel die Funktion der Beglaubigung von Urkunden und Dokumenten, eine Reaktion auf eine zunehmend schriftunkundige Zeit.
Karl dem Großen, der zwar die lateinische und griechische Sprache beherrschte, gelang es nicht, im Gegensatz zu seinem Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme, das Schreiben zu erlernen. Danach findet sich bis zur Unterschrift Ottos III. auf der Papsturkunde im Jahr 998 kein Hinweis mehr, dass ein Kaiser Schreiben konnte. (Vgl. Alfred Wendehorst, S. 12-16)
Otto der Große und sein Sohn Otto II. konnten Lesen, Heinrich II. und Heinrich IV. konnten Lesen und Schreiben. Friedrich I. Barbarossa lernte erst im Alter ein wenig Lesen während seine zweite Frau Beatrix als gebildet „litterata“ galt. Grundsätzlich darf angenommen werden, dass der größte Teil des Adels bis zum Ende des 13. Jahrhunderts das Lesen und Schreiben nicht beherrschte.
Hans Burkmair der Ältere: Wie der junge weiße König die
burgundische Sprache lernt. Wikimedia: Burgkmair Weißkunig
Auch in den späteren Zeiten war die Lese- und Schreibfertigkeit der deutschen Kaiser recht unterschiedlich. Sicher lesen und vermutlich schreiben konnten Otto der Große, sein Sohn Otto II oder Heinrich II., während von Konrad III. und Friedrich Barbarossa keine Unterschriften erhalten sind. Die Herrscher Rudolf von Habsburg und Ludwig der Bayer dürften schriftlos gewesen sein und erst ab der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts kann bei den Herrschern kontinuierlich eine Beherrschung der Schrift festgestellt werden. Kaiser Karls IV. soll seine Autobiographie sogar bis zum 14. Kapitel selbst niedergeschrieben haben. Von Kaiser Maximilian I., ist aus seinem autobiographischen Roman „Weißkunig“ bekannt, dass er von sich aus Lesen und Schreiben erlernt hat. (Vgl. Alfred Wendehorst, 16-19)
Verwendete Literatur:
Sabine Griese / Nikolaus Henkel: Funktionen und Leistungen des Lesens - Mittelalter. In: Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Hsg. von Ursula Rautenberg / Ute Schneider, Berlin 2015, S. 719-739
Nathalie-Josephine von Möllendorf‚ Lesefähigkeit‘ im späten Mittelalter
Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?
>> Schreiben, Lesen und Lesenlernen in der Antike: 1. Mesopotamien und Ägypten
>> Schreiben, Lesen und Lesenlernen in der Antike: 2. Antikes Griechenland und Rom
>> Schreiben, Lesen und Lesenlernen im Mittelalter 1
Titelbild Wikimedia: Die französische Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan und ihr Sohn.
Andreas Markt-Huter, 03-06-2024