carolina schutti, meeresbriseÜblicherweise erklären Erwachsene in infantiler Sprache den Kids, wo es langgeht. Sie verwenden dazu Bilderbücher und Kurzgeschichten und hoffen, dass die Kids während des Vorlesens eingeschlafen sind, ehe eine Lösung eines Problems zur Sprache kommt.

Carolina Schutti dreht im Roman „Meeresbrise“ den Erzählspieß um, und bringt die Erwachsenen ins Schwitzen, weil keine Lösung hergeht. Niemand schläft nämlich ein, wenn zwei Kids erzählen, was sie alles durchmachen müssen, bis sie formatiert und für den gesellschaftlichen Gebrach genormt sind.

gerald murnane, inlandZwischen Ungarn, South Dakota und Australien liegt Gras. Im Gras wird das Einfache komplex und das Komplexe einfach. Wann immer Helden vom Schreibtisch aufschauen und hinausblicken ins Freie, sehen sie Gras. Der vollkommene Roman besteht aus Gras.

Gerald Murnanes „Inland“ duckt sich vor der Bezeichnung Roman, weil er sonst perfekt wäre. Und wie perfekt „Inland“ ist, zeigt eine Nachbemerkung, wonach der Autor ein Vierteljahrhundert nach dem Entstehen 1988 alles noch einmal durchliest und feststellt: Es ist alles ausreichend erklärt und mannigfaltig genug dargestellt. Wenn etwas nicht verstanden wird, liegt es am Leser.

gabriele weingartner, léon saint clairEin Flaneur ist an jedem Augenblick am Höhepunkt! – Diese potente Zuschreibung für einen Helden, der sich quer durch Jahrhunderte und Kontinente bewegt, ermöglicht es ihm, die jeweilige Gegenwart in jener Stimmung aufzunehmen, in der wir einen gelungenen Spaziergang in den Kies setzen.

Gabriele Weingartner hat bereits im 2019 erschienenen Roman „Léon Saint Clairs zeitlose Unruhe“ den 1780 geborenen Helden zu den Napoleonischen Kriegen, ins Bangkok des frühen 20. Jahrhunderts und auf die psychoanalytische Couch der Zeitlosigkeit geschickt. Für die logische Vorstellung lebt der kleinwüchsige Sympathieträger mit seiner Freundin Konstanze in Berlin.

markus köhle, das dorf ist wie das internet - es vergisst nichtsWas kann ein Roman, was das Internet nicht kann? - Er kann von einem analogen Standpunkt aus die digitale Welt „verorten“.

Markus Köhle hat die Fähigkeit, Literaturtheorie als Unterhaltung auszugeben, indem er große Thesen auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft. Und er scheut sich auch nicht, die sogenannte Tagesverfassung als größtes denkbares Korrektiv für alle kulturellen Unternehmungen anzusprechen. Für die beiden Schlüsselbegriffe Unterhaltung und Tagesverfassung gibt es keinen besseren Nährboden als den Poetry Slam. Diesen hat er quasi im Alleingang in Österreich eingeführt und hält ihn durch permanentes Nachjustieren auch nach zwanzig Jahren noch ajour.

simon konttas, trautes heimNichts ist literarisch so schwer zu handeln wie das, was alltäglich auf dem Erlebnis-Teller liegt und als normal gilt. „Das traute Heim“ streckt als pure Formulierung sofort die semantischen Greifarme aus und lullt jene ein, die an der Oberfläche dieses Bildes bleiben.

Simon Konntas nennt seinen raffinierten Roman über die Glücksvorstellungen einer angehenden Malerin ungeschützt „Trautes Heim“. Damit spricht er die Lesenden unverblümt an, damit sie selbst die Glücksvorstellungen abrufen, die sich seit Kindheitstagen in der Spielecke der schönen Seele aufgestaut haben, ehe er mit einem schlichten Plot die gängigen Muster aus dem Lot bringt.

evelyn andergassen, atlantikpassageEinen Südtirol-Roman erkennt man ohne Zweifel daran, dass im ersten Absatz jemand auf Italienisch einen Kaffee bestellt. Mit dem simplen Ausruf „Espresso“ oder „Cappuccino“ ist dann klargestellt, dass die Zweisprachigkeit längst selbstverständlich geworden ist und Bozen, was die Multikultur betrifft, es locker mit der EU-Hauptstadt Brüssel aufnehmen kann.

Evelyn Andergassen lockt die Leser also mit dem beherzten Ausruf „Cappuccino“ in den Roman, und solcherart eingespeichelt werden wahrscheinlich manche zuerst selbst etwas trinken, ehe es in den Roman „Atlantikpassage“ hineingeht.

friedrich hahn, Jegliche Personen, jegliche Ähnlichkeiten und jegliche HandlungIn den meisten Romanen werden kunstvoll Karrieren, Biographien oder Geschichten für das beruhigte Einschlafen konzipiert, damit sich die Leserschaft an Traumbildern hinaustasten kann aus dem Tagwerk des Alltags.

Friedrich Hahn könnte man als Meister der Dekonstruktion von Biographien bezeichnen, sein erzählerisches Augenmerk gilt den Sprüngen, die verlässlich die Karrieren seiner Protagonisten heimsuchen, sein Schwerpunkt ist so etwas wie das Leben im Ausgedinge. „Das ganze Dorf ist im Modus des Ausgedinges“, (105) heißt es über das Waldviertel, wo die ehemals Ausgewanderten zum Sterben heimkommen oder zum Verkauf ihrer Häuser an die städtischen Makler.

alexei salnikow, petrow hat fieberUnschuldig lesen war einmal, heutzutage gilt es, zuerst die politische Haltung abzutasten, ehe man sich an ein Buch wagen darf. Besonders heikel sind momentan Romane, die irgendwas mit dem „zweiten putinschen Krieg“ (2022) zu tun haben.

Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“ aus dem Jahr 2016 spielt im Russland der Vorkriegszeit, handelt vom Delirium der postsowjetischen Gesellschaft in den Nullerjahren und ist als russischer Text stark ausgrenzungsgefährdet. Die Sache wird ein wenig erleichtert, da der Autor zwar in Jekaterinburg gewirkt hat und dort auch den Roman spielen lässt, aber selbst im heutigen Estland geboren ist, was ihm euro-baltische Sympathien entgegenbringt.

andreas wolfmayr, saustallProvinz ist ein anderer Ausdruck für Österreich. – Diese literarisch etwas unterkühlte Übertreibung weist darauf hin, dass die österreichische Literatur dann am stärksten ist, wenn sie unzensiert das erzählt, was auf dem weiten, kleinen Lande so passiert.

Andrea Wolfmayr führt mit dem Roman „Saustall“ die Protagonisten wieder einmal zu einer großen Familienaufstellung zusammen. Im mittlerweile fünften Band der Provinz-Saga sind wieder alle älter geworden, das merkt man schon am Einkaufstrolley, den manche von ihnen Tag und Nacht durch die Gegend schieben, um den eingeschränkten aufrechten Gang etwas abzumildern. Und auch im Personenverzeichnis hat mittlerweile so mancher ein Kreuzerl, da er verstorben ist, und dass die Verstorbenen zuvor zu Lebzeiten ein persönliches Kreuz tragen mussten, versteht sich von selbst.

selma mahlknecht, föHeimat kann eine Silbe sein, ein Wort, ein Ausruf, ein Seufzer!
Fö nennt Selma Mahlknecht nennt ihre Familiensaga über ihr neues Heimatdorf im Engadin. „Fö – Zernezer Feuer“. In einer Vornotiz wird das Nötigste gesagt. Im Jahr 1872 hat ein Feuer das Dorf zerstört, von den etwa 150 Häusern blieben nur 30 verschont.

Dieses „Fö“ ist einerseits der Tiefpunkt in der Geschichte des Dorfes am Zusammenfluss vom Inn mit dem Spöl. Fö teilt die Chronik ein in ein Vorher und Nachher. Aber Fö erweist sich auch als „die Initialzündung“ für den Aufbau und die Entwicklung des aktuell bestehenden Tourismusorts.