friedrich hahn, Jegliche Personen, jegliche Ähnlichkeiten und jegliche HandlungIn den meisten Romanen werden kunstvoll Karrieren, Biographien oder Geschichten für das beruhigte Einschlafen konzipiert, damit sich die Leserschaft an Traumbildern hinaustasten kann aus dem Tagwerk des Alltags.

Friedrich Hahn könnte man als Meister der Dekonstruktion von Biographien bezeichnen, sein erzählerisches Augenmerk gilt den Sprüngen, die verlässlich die Karrieren seiner Protagonisten heimsuchen, sein Schwerpunkt ist so etwas wie das Leben im Ausgedinge. „Das ganze Dorf ist im Modus des Ausgedinges“, (105) heißt es über das Waldviertel, wo die ehemals Ausgewanderten zum Sterben heimkommen oder zum Verkauf ihrer Häuser an die städtischen Makler.

alexei salnikow, petrow hat fieberUnschuldig lesen war einmal, heutzutage gilt es, zuerst die politische Haltung abzutasten, ehe man sich an ein Buch wagen darf. Besonders heikel sind momentan Romane, die irgendwas mit dem „zweiten putinschen Krieg“ (2022) zu tun haben.

Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“ aus dem Jahr 2016 spielt im Russland der Vorkriegszeit, handelt vom Delirium der postsowjetischen Gesellschaft in den Nullerjahren und ist als russischer Text stark ausgrenzungsgefährdet. Die Sache wird ein wenig erleichtert, da der Autor zwar in Jekaterinburg gewirkt hat und dort auch den Roman spielen lässt, aber selbst im heutigen Estland geboren ist, was ihm euro-baltische Sympathien entgegenbringt.

andreas wolfmayr, saustallProvinz ist ein anderer Ausdruck für Österreich. – Diese literarisch etwas unterkühlte Übertreibung weist darauf hin, dass die österreichische Literatur dann am stärksten ist, wenn sie unzensiert das erzählt, was auf dem weiten, kleinen Lande so passiert.

Andrea Wolfmayr führt mit dem Roman „Saustall“ die Protagonisten wieder einmal zu einer großen Familienaufstellung zusammen. Im mittlerweile fünften Band der Provinz-Saga sind wieder alle älter geworden, das merkt man schon am Einkaufstrolley, den manche von ihnen Tag und Nacht durch die Gegend schieben, um den eingeschränkten aufrechten Gang etwas abzumildern. Und auch im Personenverzeichnis hat mittlerweile so mancher ein Kreuzerl, da er verstorben ist, und dass die Verstorbenen zuvor zu Lebzeiten ein persönliches Kreuz tragen mussten, versteht sich von selbst.

selma mahlknecht, föHeimat kann eine Silbe sein, ein Wort, ein Ausruf, ein Seufzer!
Fö nennt Selma Mahlknecht nennt ihre Familiensaga über ihr neues Heimatdorf im Engadin. „Fö – Zernezer Feuer“. In einer Vornotiz wird das Nötigste gesagt. Im Jahr 1872 hat ein Feuer das Dorf zerstört, von den etwa 150 Häusern blieben nur 30 verschont.

Dieses „Fö“ ist einerseits der Tiefpunkt in der Geschichte des Dorfes am Zusammenfluss vom Inn mit dem Spöl. Fö teilt die Chronik ein in ein Vorher und Nachher. Aber Fö erweist sich auch als „die Initialzündung“ für den Aufbau und die Entwicklung des aktuell bestehenden Tourismusorts.

ralf rothmann, die nacht unterm schneeDie Kraft der Terrorregime besteht unter anderem darin, dass sie im Augenblick der Folter höchst persönlich werden. Die malträtierte Person empfindet den Schrecken in dem Glauben, dass er höchst persönlich für sie ausgewählt wird.

Ralf Rothmanns Roman „Die Nacht unterm Schnee“ baut eine Nachkriegsbiographie rund um eine Vergewaltigung auf, die1945 bei Kriegsende im Osten geschieht. Das Mädchen Elisabeth wird Opfer einer Schändung und wünscht, ewig vom Schnee bedeckt zu bleiben. Der Vergewaltiger ruft mehrmals „Devushka“ (161), was so viel wie Mädchen heißt.

wolfgang böhm, zwischen brüdernHat es einen Sinn, eine Geschichte zu erzählen, die vor hundert Jahren gespielt hat? – Ja, weil in der Literatur ja nicht nur die Geschichte von damals, sondern plus hundert Jahre danach als Geschichte erzählt werden.

Wolfgang Böhm entwirft anhand eines Brüderpaars eine kleine atmosphärische Kulturgeschichte aus dem Wien der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler Viktor und sein Bruder Hans sind seinerzeit von Olmütz aus in den Ersten Weltkrieg geschickt worden. Boden- und orientierungslos landen sie in den 1920er Jahren im derangierten Wien, das gerade als geköpftes Haupt eines ehemaligen Kaiserreichs in Geographie und Geschichte herumliegt.

c. h. huber, sagtest du liebeEine Liebesgeschichte überlebt die ausgelösten Emotionen nur, wenn sie sich rechtzeitig auf die rettende Liebesinsel „Ironie“ rettet. Und einmal dort gelandet, lässt sich neben der Liebe auch gleich der Tod wunderbar leicht erzählen.

C. H. Huber geht die Sache in forscher Innenschau an. „Sagtest du Liebe“ lässt sich schon im Titel als Vorwurf, Enttäuschung oder Häme lesen. Alle diese Leseweisen spielen eine Rolle, wenn die Protagonistin Paula ihren Liebeskrimskrams aufräumt.

Den Großteil des Romans sitzt Paula als Ich-Erzählerin im immer reifer werdenden Körper gefangen und lässt sich beinahe apathisch durch die letzten Jahrzehnte schleudern, während sie vor der Trommel sitzt und der Waschmaschine zuschaut.

rachel cusk, der andere ortWie ernsthaft kann ein Roman gemeint sein, wenn gleich zu Beginn der Teufel auftaucht und die Erzählerin in einem Pariser Vorortzug zu stalken beginnt?

Diesen Teufel sollte man ernst, wenn nicht gar wörtlich nehmen, denn er stammt von Rachel Cusk. Soeben hat sie die lesende Gesellschaftsschicht in Schwingung gebracht mit ihren Romanen über die „Unwirklichkeit“ zwischen den Geschlechtern, die letztlich an den Kollateralschäden ihrer Beziehungen ersticken.

robert prosser, verschwinden in lawinenWie kaum ein anderer Wirtschaftszweig ist der Tourismus davon abhängig, dass er auch von jenen mitgetragen wird, die ihm am liebsten aus dem Weg gehen. Ähnlich dem Sozialismus in der DDR ist der Tourismus in den Alpen eine Lebensform, die mit „IM“s im Dorfleben überwacht und eingefordert wird.

Robert Prosser ist in einem innigen Alpendorf groß geworden, seine Heimatgemeinde trägt sogar das Label „Alp“ im Ortsnamen. Wie viele Intellektuelle und Schriftsteller ist er früh von zu Hause aufgebrochen, um jenen Teil der Welt zu erkunden, der im Tourismus nicht vorkommt. Legendär sind seine Romane über den Kaukasus, den er als Abrundung zu Geschichten am Schwarzen Meer, mehrfach erkundet hat. Wegen der Kriege, die in diesen Ländern oft heimlich aufbrechen, wurde seine literarische Tätigkeit manchmal mit den Kriegsreportagen Hemingways verglichen, der ja seine Helden in amorphen Kriegen auftreten lässt.

sophie reyer, gartentageIn einem Buchhändlerwitz heißt es, wenn im Frühjahr und Herbst die Einkäufer die Katalogvorschauen nach dem Namen Sophie Reyer durchblättern, kommt er nicht zweistellig oft vor, wird es eine magere Saison mit verarmter Literatur. Der Stimmungsindex wird in diesem seltsamen Witz „Rayometer“ genannt.

Tatsächlich hat Sophie Reyer mittlerweile in allen österreichischen Verlagen publiziert, zudem gibt es kein Genre, das sie nicht schon einmal beackert hätte. Aus dieser Emsigkeit resultiert auch die Einschätzung ihrer Arbeit als Übungsliteratur. Die Autorin ist viel mit Schreibwerkstätten unterwegs und übt dabei mit den Klienten alle nur erdenklichen Textsorten. Positiv lässt sich daraus eine Literaturtheorie formulieren: Sophie Reyer verfasst keine abgefertigte Literatur, sondern Vorübungen dazu.