wolfgang böhm, zwischen brüdernHat es einen Sinn, eine Geschichte zu erzählen, die vor hundert Jahren gespielt hat? – Ja, weil in der Literatur ja nicht nur die Geschichte von damals, sondern plus hundert Jahre danach als Geschichte erzählt werden.

Wolfgang Böhm entwirft anhand eines Brüderpaars eine kleine atmosphärische Kulturgeschichte aus dem Wien der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler Viktor und sein Bruder Hans sind seinerzeit von Olmütz aus in den Ersten Weltkrieg geschickt worden. Boden- und orientierungslos landen sie in den 1920er Jahren im derangierten Wien, das gerade als geköpftes Haupt eines ehemaligen Kaiserreichs in Geographie und Geschichte herumliegt.

c. h. huber, sagtest du liebeEine Liebesgeschichte überlebt die ausgelösten Emotionen nur, wenn sie sich rechtzeitig auf die rettende Liebesinsel „Ironie“ rettet. Und einmal dort gelandet, lässt sich neben der Liebe auch gleich der Tod wunderbar leicht erzählen.

C. H. Huber geht die Sache in forscher Innenschau an. „Sagtest du Liebe“ lässt sich schon im Titel als Vorwurf, Enttäuschung oder Häme lesen. Alle diese Leseweisen spielen eine Rolle, wenn die Protagonistin Paula ihren Liebeskrimskrams aufräumt.

Den Großteil des Romans sitzt Paula als Ich-Erzählerin im immer reifer werdenden Körper gefangen und lässt sich beinahe apathisch durch die letzten Jahrzehnte schleudern, während sie vor der Trommel sitzt und der Waschmaschine zuschaut.

rachel cusk, der andere ortWie ernsthaft kann ein Roman gemeint sein, wenn gleich zu Beginn der Teufel auftaucht und die Erzählerin in einem Pariser Vorortzug zu stalken beginnt?

Diesen Teufel sollte man ernst, wenn nicht gar wörtlich nehmen, denn er stammt von Rachel Cusk. Soeben hat sie die lesende Gesellschaftsschicht in Schwingung gebracht mit ihren Romanen über die „Unwirklichkeit“ zwischen den Geschlechtern, die letztlich an den Kollateralschäden ihrer Beziehungen ersticken.

robert prosser, verschwinden in lawinenWie kaum ein anderer Wirtschaftszweig ist der Tourismus davon abhängig, dass er auch von jenen mitgetragen wird, die ihm am liebsten aus dem Weg gehen. Ähnlich dem Sozialismus in der DDR ist der Tourismus in den Alpen eine Lebensform, die mit „IM“s im Dorfleben überwacht und eingefordert wird.

Robert Prosser ist in einem innigen Alpendorf groß geworden, seine Heimatgemeinde trägt sogar das Label „Alp“ im Ortsnamen. Wie viele Intellektuelle und Schriftsteller ist er früh von zu Hause aufgebrochen, um jenen Teil der Welt zu erkunden, der im Tourismus nicht vorkommt. Legendär sind seine Romane über den Kaukasus, den er als Abrundung zu Geschichten am Schwarzen Meer, mehrfach erkundet hat. Wegen der Kriege, die in diesen Ländern oft heimlich aufbrechen, wurde seine literarische Tätigkeit manchmal mit den Kriegsreportagen Hemingways verglichen, der ja seine Helden in amorphen Kriegen auftreten lässt.

sophie reyer, gartentageIn einem Buchhändlerwitz heißt es, wenn im Frühjahr und Herbst die Einkäufer die Katalogvorschauen nach dem Namen Sophie Reyer durchblättern, kommt er nicht zweistellig oft vor, wird es eine magere Saison mit verarmter Literatur. Der Stimmungsindex wird in diesem seltsamen Witz „Rayometer“ genannt.

Tatsächlich hat Sophie Reyer mittlerweile in allen österreichischen Verlagen publiziert, zudem gibt es kein Genre, das sie nicht schon einmal beackert hätte. Aus dieser Emsigkeit resultiert auch die Einschätzung ihrer Arbeit als Übungsliteratur. Die Autorin ist viel mit Schreibwerkstätten unterwegs und übt dabei mit den Klienten alle nur erdenklichen Textsorten. Positiv lässt sich daraus eine Literaturtheorie formulieren: Sophie Reyer verfasst keine abgefertigte Literatur, sondern Vorübungen dazu.

jesse ball, zensusWarum ausgerechnet ich? – Quer durch die Jahrhunderte gibt es diese Schicksalsfrage, die das Individuum an eine anonyme Menge stellt, wenn es darum geht, einer besondere Anforderung zu entsprechen, etwas auszuhalten oder eine Barriere zu überwinden.

In der Literatur wird dieses extravagante Schicksal mehr oder weniger plausibel erzählt, in der Soziologie begnügt man sich schon damit, es ausfindig zu machen und zu dokumentieren.

Als besondere Form der „Zählung“ wird dabei der Zensus herangezogen, wobei beispielhaft Einzelschicksale hochgerechnet werden zu einem gesellschaftlichen Allgemeinzustand. In der Vogelkunde wird zu diesem Zweck die sogenannte Beringung herangezogen, indem jedes Exemplar haptisch markiert wird.

ludwig roman fleischer, partnerlookDie Weltliteratur, sagt man, ist sehr gerecht aufgebaut. Jedes Land darf einen besonderen Baustein dazu beitragen, und am Ende gibt es eine Fülle von Stoff, Erzähltechniken und überschäumenden Realismus.

Österreichs Beitrag zu diesem erzählenden Weltwunderwerk ist der „Innere Monolog“. Einst vom ruhiggestellten Arzt Arthur Schnitzler für seine Figur Fräulein Else 1924 erfunden, erreicht er seinen Höhepunkt in der Figur des Herrn Karl, der die österreichische Seele zu einem pragmatischen Kellerwesen ausbaut.

Und nicht nur in psychologischen Belangen ist der innere Monolog unschlagbar, er erweist sich auch als Erzählmeister einsamer Individuen, die von einer Pandemie in ihre eigenen Körperzellen gesperrt sind.

waltraud mittich, ein russe aus kiewMerkt es eine Dichterin eigentlich, dass sie aus der Zeit gefallen ist? Und wenn ja, ist sie dann nicht schon wieder in der Zeit drin?

Ein Russe aus Kiew, der Roman von Waltraud Mittich, wirkt auf den ersten Blick, als wäre er marktgerecht, mit einem Paradoxon im Titel, aktuell zum Überfall auf die Ukraine geschrieben. Aber in der Literatur hat selten die Schriftstellerin die Oberhoheit über den Stoff, meistens sind es pure Zeitgeschichte, Literaturbetrieb und Lieferkette, die das Sagen haben.

robert menasse, die erweiterungDer sogenannte Europa-Roman ist gleich zweimal definiert. Einmal als Roman, der sich um das politische Europa der Gegenwart kümmert, das seinen Sitz wie frühere Pfalzen überall am Kontinent hat, und zum zweiten als literarisches Genre.

Der Europaroman ist ein auf DIN-A-Brüssel geeichtes Textkonglomerat, das mit austauschbaren Elementen von jeder Übersetzungsmaschine in alle Sprachen der Mitgliedsländer leicht übersetzt werden kann.

isabella breier, grapefruits oder vom großen gartenEinem Klumpen Lehm gleich wird der sogenannte Konzeptroman den Lesern auf einer Töpferscheibe angeboten, die sich beim Lesen zu drehen beginnt, sodass daraus ein persönlicher Golem geformt werden kann.

Isabella Breier nennt ihr Buch „Vom großen Ganzen“ eine Groteske und serviert diese unter dem rätselhaften Titel „Grapefruits“. Schon beim ersten Aufschlagen des „Romans“ stellt sich dieses animierende Gefühl ein, dass man sich den Text erarbeiten muss. Im besten Fall dreht sich die Töpferscheibe und beim ersten Zupacken mit beiden Händen lässt sich ein großes Dreieck der Erkenntnis herauslesen.