kristiane kondrat, abstufung dreier nuancen von grauRare Bücher jenseits des Massenauftriebs sind oft in eine individuelle Untergrund-Geschichte eingeschlagen oder tragen diese eingenäht im Umschlag herum. Diese Bücher rutschen im Regal auch gerne nach hinten, während vorne an der sichtbaren Kante die Alltagsware den Zugriff verstellt.

Kristiane Kondrats Roman „Abstufung dreier Nuancen von Grau“ ist so ein verstelltes Buch, das von selbst nach hinten ins Regal wandert, weil es ein Leben lang als Geheimnis, Untergrundstück, eingenähtes Mantelmaterial oder aufgesplittertes Informationsgut quer durch den Kontinent und die diversen Regime getragen worden ist.

andreas britz, antisemitismus in der geschichte„In zehn Kapiteln stellt das Heft repräsentative Zeugnisse zur Geschichte und Gegenwart der Judenfeindlichkeit vor. Dabei werden die wichtigsten Spielarten des Antisemitismus berücksichtigt.“ (S. 1)

Der Antisemitismus zieht in der Geschichte Europas eine Jahrtausende alte Spur der Ablehnung, des Hasses und des Leids. Selbst nach den Schrecken des Holocausts lebt der Antisemitismus in vielerlei neuen Spielarten und in den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Lagern fort. Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus an Schulen gewinnt vor diesem Hintergrund einen ganz besonderen Stellenwert.

pascal bruckner, ein nahezu perfekter täter„Der Westen erfüllt alle Bedingungen, um als perfekter Täter zu gelten. Jenseits des Atlantiks hat er auf Basis des Genozids an der Urbevölkerung, der Versklavung von Afrikanern und der Segregation von Schwarzen eine neue Nation gegründet. Und auf Europa lasten vier Jahrhunderte Kolonialismus, Imperialismus und Sklaverei – obwohl es auch europäische Nationen waren, die sich als erste für deren Abolition einsetzten. Was die westliche Welt zum perfekten Sündenbock macht, ist vor allem, dass sie ihre Verbrechen nicht leugnet …“ (S. 12)

Pascal Bruckner geht der Frage nach, wie sich das Feindbild des „weißen Mannes“ in der westlichen Welt ausbreiten konnte und setzt sich mit den Folgen für das Zusammenleben der Menschen in Europa aber auch in anderen Teilen der Welt kritisch auseinander.

norbert gstrein, vier tage, drei nächteEs geht nichts über die Ironie, die sich über akademische Scheindiskussionen, pandemische Langzeitfolgen, Reproduktionsgelüste von Lebensmüden und Sollbruchstellen von ehemaligen Traumberufen legt.

Norbert Gstrein zwingt die Leserschaft noch vor der ersten Seite, den eigenen Standpunkt zu formulieren, sonst wird dieser alle paar Seiten ausgehebelt und in Frage gestellt. Am tiefsten wirkt sein Roman „Vier Tage, drei Nächte“, wenn man ihn mit jener eleganten Wegwerfbewegung liest, mit der ihn der Autor sinnlich und klug geschrieben hat.

peter giacomuzzi, briefe an mimiDas Wohnzimmer der Literatur ist die Kiste, da fühlt sie sich wohl und beschützt und wartet mit dem Kistenbesitzer tapfer auf das Ende der Welt. Peter Giacomuzzi ist von Kindheit an von dieser Literatur in der Kiste inspiriert. Bei ihm hat diese Verzauberung die Ausmaße einer Schuhschachtel und steht im Regal seiner Tante, die ihn durchs Studium füttert. In der Schachtel sind Briefe eines gewissen Toni, der als Bild neben dem Fernseher steht.

Später ist die Tante gestorben und der Erzähler erwachsen geworden. Mit größter Ehrfurcht sichtet er die Briefe und beschließt nach Jahrzehnten, sie im gefühlten Einklang mit der Tante diskret zu edieren.

sheldon wolin, umgekehrter totalitarismus„Aufgrund des hochgradig organisierten Strebens nach technologische Innovation und der dadurch begünstigten Kultur findet der Wandel heute schneller statt, ist umfassender und willkommener als je zuvor – was bedeutet, dass Institutionen, Wertungen und Erwartungen gemeinsam mit der Technologie nurmehr eine begrenzte Haltbarkeit zukommt. Wir erleben den Triumph der reinen Gegenwart und ihres Komplizen: des Vergessens bzw. der kollektiven Amnesie.“ (S. 57)

In seiner Analyse der amerikanischen und westlicher Gesellschaften prägt Wolin den Begriff „umgekehrter Totalitarismus“. Dabei wird diese Form des politischen Systems der zunehmenden Ent-Demokratisierung der Gesellschaft von Machthabern und Bürgern meist unbewusst forciert, ohne sich dabei explizit an ideologischen Konzepten zu orientieren.

thomas arzt, die gegenstimmeLesen hat im gesellschaftlichen Diskurs einen ähnlich positiv besetzten Stellenwert wie Spazierengehen. Dennoch muss dies ständig beworben werden, weil es offensichtlich nicht selbstverständlich ist.

Auf den öffentlichen Sendern wird daher bei passender Witterung darauf hingewiesen, dass es am Nachmittag Zeit für einen Spaziergang ist, und die kulturellen Einrichtungen einer Kommune schwärmen mindestens einmal im Jahr davon, dass es jetzt Zeit zum Lesen wäre.

robert misik, das große beginnergefühlEine Revolution ohne Optimismus ist schon gescheitert, ehe sie begonnen hat. So gesehen schreit die gegenwärtige Gesellschaft, wenn nicht nach Revolution, so immerhin nach Optimismus.

Robert Misik kratzt für das große „Beginnergefühl“ zweihundert Jahre Kulturgeschichte der Moderne zusammen, um zu zeigen, dass hinter allen Veränderungen immer ein Stück Optimismus gestanden hat. Das „Beginnergefühl“ ist ein Notat von Bert Brecht, verfasst mitten im Desaster des Zweiten Weltkriegs. Eines Vormittags schreibt er einfach das Gefühl vom Beginnen auf, und gibt sich dadurch einen Ruck, sich für die Zukunft bereitzumachen.

thomas antonic, united states of absurdiaDer Volksmund formuliert bei Größenordnungen relativ klar, sofern sich Größe überhaupt vorstellen lässt. Wenn etwas abnormal groß ist, sodass es sich kaum noch erzählen lässt, spielt es in Amerika. Und alles, was darüber hinausgeht, spielt in Absurdia. Dabei ist die Grenze zwischen Amerika und Absurdia eine weiche, obwohl sie ähnlich hart gedacht ist wie jene zwischen Amerika und Mexiko.

Thomas Antonic beginnt sein Epos mit einem perfekten Eingangsbild: Auf einem Western-Heft, das sich „Horse Tales“ nennt, wird eine Phantasie-Ausgabe aktuell dem 15. Jan. – 15. Feb. 2022 zugeordnet.

tobias hürter, das zeitalter der unschärfe„Stellen Sie sich vor, Sie finden eines Tages heraus, dass die Welt, in der Sie leben, ganz anders funktioniert, als Sie bisher glaubten. Die Häuser, Straßen, Bäume und Wolken sind nur Kulissen, bewegt von Kräften, von denen sie nichts ahnten. Genau dies ist den Physikerinnen und Physikern vor hundert Jahren widerfahren. Sie mussten einsehen, dass hinter den Begriffen und Theorien, durch die sie die Welt sahen, eine tiefere Wirklichkeit liegt …“ (S. 9)

Die Epoche vom Ende des 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gilt als das golden Zeitalter der Physik. In dieser Zeit haben sich Einsichten und Theorien entwickelt, die das bisherige Fundament der Physik revolutionierte und die Welt von Grund auf verändert hat.