friedrich hahn, die späte frauWie an einer Schleuse treffen Autor und Leser jäh aufeinander und müssen ihre Erfahrungslevel aufeinander abstimmen, damit der Text passieren kann. Eine elementare Bedeutung kommt dabei der Außenhaut des Textes zu, die diesen vor zu hartem Aufeinandertreffen mit dem Leser und seiner Realität schützt.

Friedrich Hahn gibt dieser „Außenhaut“ in seinen Romanen viel Platz. Zum einen installiert er raffinierte Rahmenhandlungen, in die er die Texte wie Bilder hineinmanövriert, zum anderen platziert er um den Kern des Romans allerhand Material herum, das diesen abfedert und vor Brüchen schützt wie Verpackungsmaterial. Diese Absätze, Notate, Erinnerungsskizzen und Aphorismen laufen beim Autor mehr oder weniger getaktet ein und sind fürs erste keinem Genre zuzuordnen.

helen pluckrose, zynische theorien„Zynische Theorien erklärt, wie die Theorie zur treibenden Kraft im kulturellen Krieg der späten Zehnerjahre unseres Jahrtausends avancierte – und schlägt zugleich eine liberale philosophische Alternative vor, um dieser Denkströmung in Wissenschaft, Aktivismus und Alltag zu begegnen. Das Buch zeichnet nach, wie sich die einzelnen Zweige einer zynischen postmodernen Theorie in den letzten fünfzig Jahren herausbildeten, und zeigt […] den Einfluss der Theorie auf unsere heutige Gesellschaft auf.“ (S. 14)

Seit den 2010-er Jahren ist es der „Woke-Bewegung“ und der „Identitätspolitik“ bemerkbar gelungen, aus der ursprünglich universitären Umgebung in die breite Gesellschaft auszugreifen und sozialpolitischen Einfluss auszuüben.

stefan soder, cafe seligWer rechtzeitig aus dem Studium aussteigt, kann immer noch hochglänzender Barkeeper oder Bundeskanzler werden.

Stefan Soder siedelt seinen Roman „Café Selig“ um ein studentisches Quartett an, das betroffen feststellt, dass man den Sinn des Lebens nicht inskribieren kann. Die Location Bar erweist sich als gesellschaftliches Labor, worin geforscht, getestet, resigniert und resümiert wird. In Soders früheren Romanen haben Club (2015), Simonhof (2017) oder Tour (2019) als Orte der Auseinandersetzung fungiert.

michael borgolte, die welten des mittelalters„In der folgenden untersuchenden Darstellung rückt also die Menschenwelt der drei Kontinente in den Vordergrund; sie bildete schon in der mediterranen Antike eine gedachte Einheit und kann als <trikontinentale Ökumene> oder <Eufrasien> bezeichnet werden.“ (S. 31)

Michael Borgolte skizziert in seinem umfangreichen Sachbuch eine Globalgeschichte des Mittelalters, also eine Geschichte der gesamten Menschheit im Zeitraum zwischen 500 bis 1500 n.Chr. Während gewöhnlich mit der Geschichte des Mittelalters die in der Tradition der römischen Kirche stehende Geschichte des westlichen oder mittleren Europas gemeint ist, verlässt das Buch diese räumliche Abgrenzung und richtet den Blick auf die Geschichte des gesamten Globus während dieses Zeitraums.

chris wickham, das mittelalter„Dieses Buch handelt vom Wandel. Die Epoche, die wir als »Mittelalter« bezeichnen, dauerte tausend Jahre, von 500 bis 1500; und Europa, das Thema dieses Buches, sah nach dieser Periode völlig anders aus als zu deren Beginn. […] Ich möchte mit diesem Buch zeigen, wie sich dieser Wandel und viele andere Wandlungsprozesse vollzogen und inwiefern sie von Bedeutung sind.“ (S. 7)

Ausgehend von der Teilung der europäischen Welt in einen vom römischen Imperium beherrschten und bestimmten Teil und einen außerhalb des römischen Einflusses gelegenen Teil wird die Entwicklung Europas zu einem komplexen Staatensystem gegen Ende des Mittelalters aufgezeigt, das bis heute die europäische Welt bestimmt.

georgi gospodinov, zeitzufluchtWenn es sich von dieser Welt schon nicht horizontal-geographisch fliehen lässt, vielleicht sollte man es vertikal-chronologisch versuchen. Warum nicht in die Zeit selbst fliehen, statt aus ihr heraus?

Georgi Gospodinov erzählt in seinem über den Kontinent gespannten Roman „Zeitzuflucht“ von der Magie der Vergangenheit als der eigentlichen Zukunft. Es ist wahrscheinlich alles nur eine Frage der Richtung, „wer sich in der Vergangenheit umdreht, sieht die Zukunft“.

gerd busse, typisch belgischWenn die EU sich Brüssel als Hauptstadt unter den Nagel gerissen und ihre Nationen als austauschbares Ganzes eingebracht hat, ist dann noch etwas übrig für „typisch belgisch“?

Und wenn die Globalisierung alles verschiebbar oder universal-kompatibel gemacht hat, muss dann nicht jedes Land erst recht aufstehen, um sich mit ein paar typischen Dingen eine Restidentität zu verschaffen, ohne gleich in den Nationalismus überzuschwappen?

peter paul wiplinger, schachteltexte3Damit die Literatur aus dem Leben heraustreten und sich Luft verschaffen kann, braucht es zwei Beobachtungsschlitze: Durch den einen blickt man auf den anstehenden Tag, durch den anderen auf das verflossene Leben.

Peter Paul Wiplinger führt die beiden Suchbewegungen mit seinen Schachteltexten elegant und eindringlich zusammen. Seit fünfzehn Jahren arbeitet er an diesem einmaligen Dokument, wobei auf ausgeklappte und ausgerissene Verpackungsteile mit der Füllfeder Texte komponiert werden. Ein Auge blickt auf den aktuellen Zustand des schreibenden Ichs und das andere setzt sich den historischen Gezeiten von Kindheit bis zur Reife aus.

selma mahlknecht, berg and breakfastTourismus ist wie Sex: Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, ist er kaputt.  Durch das Format Essay werden derlei Gefährdungen minimiert. Im Essay darf nämlich auf gesicherten Fakten subjektiv nachgedacht werden.

Selma Mahlknecht verbindet im Titel ihres Essays das Sehnsuchtselement Berg mit dem handfesten Frühstück, das Hardcore eingenommen wird. Im Tourismus geht es nämlich immer um Bilder, die als luftige Vorstellung vorausreisen, ehe der Körper handfest hinterher reist, um sie zum Platzen zu bringen – wie die sprichwörtliche Seifenblase.

alois hotschnig, der silberfuchs meiner mutterGermanisten kümmern sich um die Autoren, Rezensenten um die Leser. Bei einem Meisterwerk treffen beide friedlich aufeinander und besingen das Kunststück von vorne und hinten.

Alois Hotschnig ist ein versöhnender Dichter, der die oft seltsam schrägen Ansprüche der Germanisten mit den geraden Bedürfnissen der Leserschaft zusammenbringt. Seine solitären Bücher zeigen, dass sich ausgehungerte Lesende zum Buch meist noch etwas hinzu wünschen, ehe sie mit der Lektüre beginnen.