wilfried steiner, die wilde fahrt des arthur rimbaudEin gutes Lesebändchen ist stets aufgeregt, wenn es wo eingelegt wird. Es kommuniziert mit den Lesern und fragt stumm, warum es in welcher Reihenfolge wo eingelegt wird.

Wilfried Steiner lässt seinen Essay über ein Gedicht von Arthur Rimbaud mit einem Lesebändchen versehen, weil man stets zwischen den drei Zugängen zum Gedicht vom „trunkenen Schiff“ hin und her springen soll. Am besten, man geht die Sache von hinten her an.

Im letzten Kapitel wird in der sogenannten Rimbaud-Zeittafel (48) im Stile eines Abenteuerromans das Leben eines Autors erzählt, den man heutzutage in manchen Kreisen als Franzosen-Beatnik einstufen möchte. Als pubertierendes Kind rennt er dreimal von der Mama weg und muss von der Polizei eingefangen und zurückgebracht werden. Dann gibt es kein Halten mehr, er knüpft erste Kontakte zum literarischen Establishment in Paris, um sich gleich wieder abzuwenden. Angeblich hält er es nirgendwo länger als 14 Tage aus.

christian steinbacher, scheibenwischer mit fransenIm Flanieren durch Gärten, Vororte oder Rentnerareale bleibt man oft stehen und geht einen Schritt zurück, um sich etwas genauer anzusehen, das beim ersten Vorbeigehen nur als Irritation aufgefallen ist. „Scheibenwischer mit Fransen“ wäre so eine Begebenheit, an der man zuerst vorbeigeht, ehe man sich umdreht und die Fügung unter das sprachliche Okular nimmt.

Christian Steinbacher reizt mit seinen Texten die üblichen Anwendungen der Sprache aus, indem er sie scheinbar alltäglich verwendet, ihnen aber einen gewissen Drall verleiht, sodass sie als poetische Kreisel hinausdriften, weg vom untergelegten Spielbrett.

jörg zemmler, wir wussten nicht warumWahnsinnigen wird oft der Seufzer nachgerufen: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Dabei wissen diese bloß nicht, warum. Jörg Zemmler lässt ein „wahnsinniges Wir“ in seinen Gedichten auftreten. Selbstbewusst kommen Figuren und Fügungen zur Geltung, die es vor allem mit der Liebe haben. Der Untertitel präzisiert es: „Nur Zweifel gab es keine.“ – Hier sind vielleicht Missionarische am Werk.

Man liegt als Lesender nie falsch, wenn man einen Lyrikband vor dem Lesen durchzappen lässt wie ein Daumenkino. Die rasch vorüberzischende Textur offenbart dabei einen ersten Eindruck, ob etwas kompakt, fragil oder erschlagend ist.

hannes vyoral, ostinatoUnter Tagebuch versteht man einerseits den Hinweis auf die Ausdauer chronologischen Schreibens, andererseits ist es ein literarisches Genre, das durchaus mit einer solitären Bedeutung unterlegt sein kann.

Hannes Vyoral überschreibt sein Tagebuch rund um den Beginn der 2020er Jahre mit „Ostinato“, womit musikalisch eine Figur gemeint ist, die sich ständig wiederholt. Im Literaturbetrieb wird Ostinato manchmal als letztes Kapitel einer Biographie verwendet, um auf den Kreislauf einer Entwicklung jenseits des Linearen hinzuweisen.

Bei Hannes Vyoral „dreht“ sich im Ostinato alles um den Verlauf des Jahres, und wenn das eine Jahr vorbei ist, kommt das nächste, überraschend gleich ausgeprägt und dennoch völlig anders.

ludwig hartinger, leerzeichenDer klassische Beruf eines Lektors bringt es mit sich, dass die Kunst des Lektorats oft höher eingeschätzt wird als die Texte, die gerade lektoriert werden müssen. Lektoren „alten Schlages“ sind daher die wahren Sprachmeister im Literaturbetrieb und laufen den Tagesdichtern spielend den Rang ab, was Genauigkeit, Sensibilität und Relevanz betrifft.

So ist es kein Wunder, dass das sogenannte „Leerzeichen“ in Sprache und Text bei diesen Künstlern zu einem tragenden Element wird.

Ludwig Hartinger ist ein Meister des Leerzeichens, aus seiner Tätigkeit beim Lektorieren entwächst scheinbar nebenher eine eigene Kunstform: das dichterische Tagebuch.

jörg reinhardt, zeitlupenwegeWenn etwas für wichtig gehalten wird und eine Szene für die Wahrheitsfindung enträtselt werden soll, ist die Zeitlupe seit den Anfängen des Films eine gute Methode, der Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen. Das gilt für forensische Abläufe oder Schadensmeldungen genauso wie für Lyrik, wo ja auch der pure Ablauf der Zeit in Poesie verwandelt werden kann, indem man eine Story verlangsamt oder eine Sequenz herunterfährt bis nahe an ein Standbild.

Jörg Reinhardt umschreibt das programmatische Gedicht zu diesem Vorgang mit „Zeitlupenwege“ (157), am Cover ist dieser Begriff zudem zu einem Dreizeiler aufgerüstet: Zeit Lupen Wege. In diesem Begriffsgedicht laufen Chronik, Dimension und Distanz zu einer Kürzest-Theorie zusammen, die einen Text vom Ersteintrag als Notiz an bis hin zu einem epischen Langgedicht betreut.

helmuth schönauer, buch in pension 4„Es kann nicht der geringste Zweifel darin bestehen, dass überhaupt alle Bücher darauf warten von Helmuth Schönauer aufgebracht zu werden: damit er sie – in Stellvertretung für die übrige zersprengte Menschheit – bei sich in Pension nehmen könne. Ehe es jedoch soweit ist, stillt dieser Musterhirte der Bibliomanie die erste, noch wenig verfeinerte Begierde aller von Lektüre Besessenen.“ (S. 7)

150 Buchbesprechungen zwischen Anfang Jänner und Ende Dezember finden sich im 4. Band der Serie „Buch in Pension. Tagebuch eines pensionierten Bibliothekars“. Die rezensierten Bücher umfassen ein breites kulturelles und geographisches Œuvre in dem sich russische Romane, literarische Sachbücher und zweisprachige Texte ebenso finden lassen wie Journale, Lyrikbände, Dramolette oder Erzählbände.

andreas pavlic, sternhagelBücherfreunde wissen: Die Steigerung von Buch heißt Umkehrbuch. Das ist eine Art U-Turn, wie man ihn im Rallye-Sport kennt. Man hält das Buch wie immer, macht einen U-Turn, und hat plötzlich ein anderes Buch in der Hand. Die erste Frage bei der Lektüre eines Split-Buches lautet folglich: Was lese ich zuerst? Lese ich in einem Zug bis zur Mitte, oder wechsle ich nach jedem Gedicht die Buchhälfte?

Markus Lindner und Andreas Pavlic schweißt ein Schicksal zusammen, sie sind beide von Tirol-Erinnerung gewürgte Aussiedler, die ihre Jugenderinnerungen an Innsbruck mit einem Blues würzen, um diesen schließlich mit überregionalen Themen zu überlagern.

alexander kluge, das buch der kommentareVom Gewicht her überstrahlt der Titel „Das Buch der Kommentare“ bei weitem den erfrischenden Zusatz „Unruhiger Garten der Seele“. Das eine erinnert an archaische Bibelformate jenseits von Raum und Zeit, das andere ist die zaghafte Verortung des Individuums im Garten der eigenen Seele.

Alexander Kluge hat sich zu seinem neunzigsten Geburtstag sein Werk abermals selbst erschlossen, indem er in drei Einleitungsgeschichten unerwartete Zugänge zur Welt freischaufelt.

janko ferk, mein leben, meine bücherJe heftiger du vom Lesen schwärmst, umso weniger glaubst du vielleicht daran. – Diese schlaue Erkenntnis von Bibliothekaren, die sich mit aufgekratzter Kundschaft auseinandersetzen müssen, sollte man auch probehalber für Dichter anwenden, die zum Ruhestand in eine potentielle Lese- oder Schreibkrise geraten sind.

Janko Ferk nennt seine persönlichste Erzählung „Mein Leben. Meine Bücher“. Darin beschreibt ein ziemlich „authentisches Ich“ zehn Bücher, die es zu einem außergewöhnlichen Leben verführt haben. Die Erzählung ist erfüllt von Glück, Aufregung, Anspannung und Genugtuung, dem Helden ist nämlich nichts anderes gelungen als ein literarisch erfülltes Leben.