dine petrik, handgewebe lapisblauGroßes Stimmungskino kann in der Literatur oft mit einem Farbton umschrieben werden, man denke an die rosa Brille oder den alle Sinnesorgane umfassenden Blues.

Dine Petrik setzt ihre Gedichte hinter eine Linse aus „lapisblau“, fein assoziierend, dass rare Farben oft herhalten für politische Formationen, man denke nur an die Blauen oder die Türkisen. Das Genre „Handgewebe“ deutet freilich auf manuelle Kunstfertigkeit hin, auf Geduld von Gewebe und fein gegliederter Stofflichkeit. Ein mit der Hand geschriebener Text kann so als Textur von einzigartigen Arbeitsschritten gelesen werden.

fiston mujila, kasala für meinen kakuEine magische Botschaft besteht üblicherweise aus einem Schlüssel ohne Schloss. - Im Falle der Literatur freilich entsperrt diese Botschaft das gesamte Buch.

Fiston Mwanza Mujila gibt seinem Gedichtband ein Rätsel als Überschrift: „Kasala für meinen Kaku“. Anschließend verschwindet er ins Buchinnere, um freilich in einem prächtigen Interview seine Theorie einer interkontinentalen Literatur darzulegen. Dabei werden auch die Fachbegriffe für deutschsprachige Lesende erklärt, das Interview ist in der Kolonialsprache Französisch gehalten. Überhaupt handelt es sich beim „Kasala“ um ein „Wendebuch“, je nach Bedarf lässt sich das Buch so halten, das vorne die gewünschte Sprache auftaucht und hinten seitenverkehrt die andere.

simon konttas, der lauf aller dingeGedichte sind letztlich Vorschläge für Rituale, mit denen das Nicht-Messbare gemessen und das Nicht-Fixierbare eingefangen werden kann. Dabei wird „der Lauf der Dinge“ für Augenblicke als Andeutung einer Bewegung sichtbar, während diese Dinge schon wieder verschwunden sind.

Simon Konttas hat zum Einfangen der flüchtigen Dinge ein weißes Netz aus Papier gewählt, dieses wird durch die Zeit gezogen wie ein Filter für halb ausgestorbene Insekten, – und am Ende der Schreibbewegung sind vierundzwanzig Gedichte eingefangen und liegen auf dem Weiß als zappelnde Zeilen und Wort-Partikel.

kirstin schwab, wir teilen unser ungleichgewichtIn schwärmerischen Naturbeschreibungen der Romantik wird öfters beschworen, dass es das Ungleiche ist, das in der Natur die Lebewesen zuerst von einander in Schach hält, ehe sich dann ein harmonischer Zustand einstellt. – Im politischen Diskurs hingegen gilt das Ungleichgewicht meist als Anlass, geeignete Maßnahmen zu setzen, und sei es nur, dass man sich wie Justitia die Augen verbindet. - In der Liebe hingegen brauchen diese Augen nicht verbunden zu werden, denn die Liebe macht ja von sich aus blind.

Kirstin Schwab kümmert sich in ihren Gedichten um dieses Ungleichgewicht, das die Seelen umgibt, manchmal als schwere Krise einer Lebensentscheidung, dann wieder als stilles Ungemach, das einen unerwartet beschleicht. Der Übergang der Befindlichkeit von poetischer Erregung in profane Erschlaffung ist fließend und funktioniert in beiden Richtungen.

sandra hubinger, von krähen und nüssenSeit ewigen Zeiten bevölkern Krähen den Kontinent und werden im Frühjahr mit Geräuschen und Fetzen vom Saatgut verscheucht, im Herbst sind dann sie es, die die Menschen in die Häuser verscheuchen, indem sie ihnen vormachen, im Nebel sei der Tod nahe.

Sandra Hubinger schart in ihrer Kurzprosa immer wieder Krähen um sich und ihre Texte und lässt sie Nüsse knacken. Seit die Vögel generell weniger werden und mit dem Aussterben drohen, denken die Menschen beim Wort Krähen an Versuchsanordnungen, wenn sie die Kreativität von Krähen beschreiben. Man spricht geradezu von der „Kräh-ativität“, wenn man den Vögeln zusieht, wie sie Nüsse knacken und Spielvorgaben mit Leichtigkeit hintergehen und ad absurdum führen.

wilfried steiner, die wilde fahrt des arthur rimbaudEin gutes Lesebändchen ist stets aufgeregt, wenn es wo eingelegt wird. Es kommuniziert mit den Lesern und fragt stumm, warum es in welcher Reihenfolge wo eingelegt wird.

Wilfried Steiner lässt seinen Essay über ein Gedicht von Arthur Rimbaud mit einem Lesebändchen versehen, weil man stets zwischen den drei Zugängen zum Gedicht vom „trunkenen Schiff“ hin und her springen soll. Am besten, man geht die Sache von hinten her an.

Im letzten Kapitel wird in der sogenannten Rimbaud-Zeittafel (48) im Stile eines Abenteuerromans das Leben eines Autors erzählt, den man heutzutage in manchen Kreisen als Franzosen-Beatnik einstufen möchte. Als pubertierendes Kind rennt er dreimal von der Mama weg und muss von der Polizei eingefangen und zurückgebracht werden. Dann gibt es kein Halten mehr, er knüpft erste Kontakte zum literarischen Establishment in Paris, um sich gleich wieder abzuwenden. Angeblich hält er es nirgendwo länger als 14 Tage aus.

christian steinbacher, scheibenwischer mit fransenIm Flanieren durch Gärten, Vororte oder Rentnerareale bleibt man oft stehen und geht einen Schritt zurück, um sich etwas genauer anzusehen, das beim ersten Vorbeigehen nur als Irritation aufgefallen ist. „Scheibenwischer mit Fransen“ wäre so eine Begebenheit, an der man zuerst vorbeigeht, ehe man sich umdreht und die Fügung unter das sprachliche Okular nimmt.

Christian Steinbacher reizt mit seinen Texten die üblichen Anwendungen der Sprache aus, indem er sie scheinbar alltäglich verwendet, ihnen aber einen gewissen Drall verleiht, sodass sie als poetische Kreisel hinausdriften, weg vom untergelegten Spielbrett.

jörg zemmler, wir wussten nicht warumWahnsinnigen wird oft der Seufzer nachgerufen: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Dabei wissen diese bloß nicht, warum. Jörg Zemmler lässt ein „wahnsinniges Wir“ in seinen Gedichten auftreten. Selbstbewusst kommen Figuren und Fügungen zur Geltung, die es vor allem mit der Liebe haben. Der Untertitel präzisiert es: „Nur Zweifel gab es keine.“ – Hier sind vielleicht Missionarische am Werk.

Man liegt als Lesender nie falsch, wenn man einen Lyrikband vor dem Lesen durchzappen lässt wie ein Daumenkino. Die rasch vorüberzischende Textur offenbart dabei einen ersten Eindruck, ob etwas kompakt, fragil oder erschlagend ist.

hannes vyoral, ostinatoUnter Tagebuch versteht man einerseits den Hinweis auf die Ausdauer chronologischen Schreibens, andererseits ist es ein literarisches Genre, das durchaus mit einer solitären Bedeutung unterlegt sein kann.

Hannes Vyoral überschreibt sein Tagebuch rund um den Beginn der 2020er Jahre mit „Ostinato“, womit musikalisch eine Figur gemeint ist, die sich ständig wiederholt. Im Literaturbetrieb wird Ostinato manchmal als letztes Kapitel einer Biographie verwendet, um auf den Kreislauf einer Entwicklung jenseits des Linearen hinzuweisen.

Bei Hannes Vyoral „dreht“ sich im Ostinato alles um den Verlauf des Jahres, und wenn das eine Jahr vorbei ist, kommt das nächste, überraschend gleich ausgeprägt und dennoch völlig anders.

ludwig hartinger, leerzeichenDer klassische Beruf eines Lektors bringt es mit sich, dass die Kunst des Lektorats oft höher eingeschätzt wird als die Texte, die gerade lektoriert werden müssen. Lektoren „alten Schlages“ sind daher die wahren Sprachmeister im Literaturbetrieb und laufen den Tagesdichtern spielend den Rang ab, was Genauigkeit, Sensibilität und Relevanz betrifft.

So ist es kein Wunder, dass das sogenannte „Leerzeichen“ in Sprache und Text bei diesen Künstlern zu einem tragenden Element wird.

Ludwig Hartinger ist ein Meister des Leerzeichens, aus seiner Tätigkeit beim Lektorieren entwächst scheinbar nebenher eine eigene Kunstform: das dichterische Tagebuch.