johannes voskuil, der tod des martin koningIn einem Biologen-Witz werden die Fische in Süßwasser- und Meerwasser-Tiere eingeteilt, die Menschen hingegen in Sauerstoff- und Büroluft-Atmer. Das Büro ist dabei ein eigenes Biotop, in dem alle lebensnotwendigen Zutaten künstlich hergestellt werden müssen. Physikalisch lässt sich ein Büro mit einem Raumschiff vergleichen, das mit vollendeter Schwerkraftlosigkeit an Bord durch das Weltall zischt, bis es verglüht.

Johannes J. Voskuils Kosmos „Das Büro“ glüht in seinem siebten Teil seinem Ende entgegen. Vor sechs Bänden ist Marteen Koning zufällig an einem Amsterdamer Volkskunde-Institut vorbeispaziert und tatsächlich eingestellt worden.

eva maria gintsberg, die reiseAuf der wahrlich großen Lebensreise verlieren die Reisenden allmählich das Ziel, am Schluss wissen sie gar nicht mehr, dass sie auf Reisen sind.

Eva Maria Gintsberg stellt in ihrer Erzählung um einen jähen Aufbruch ein paar Protagonisten am Bahnsteig zusammen und lässt sie im Morgengrauen losfahren. Die Ich-Erzählerin, die das Reisen nicht gewöhnt ist, packt eines Tages einen Koffer und begibt sich in der Früh zum Bahnhof, sie sticht aus der Menge der Wartenden hervor, vielleicht, weil sie ein besonderes Ziel hat. Sie will nämlich in die Vergangenheit ihres Vaters reisen, der während des Krieges eine Affäre gehabt hat. Nach seinem Tod sind nur ein paar rätselhafte Buchstaben übriggeblieben, die darauf hindeuten, dass es irgendwo eine Geliebte mit dieser Signatur gibt.

brane mozetic, umarmung des wahnsinnsSexual Reality (SR) gilt spätestens seit Henry Miller für die Literaturbeschreibung als Hilfsmittel, um eine obsessive fiktionale Wirklichkeit zu beschreiben, zu der der Leser nur bedingt vordringen kann. Diese Realität lässt sich am ehesten mit Virtual Reality (VR) vergleichen, worin ja auch die User hinter dicken Digital-Brillen sitzen und nur schwer mit Brillenlosen kommunizieren können.

Brane Mozetič schickt seinen Ich-Erzähler in eine Welt der Obsession, Erregung und höchster Hormon-Zirkulation. Mitten in den „Umarmungen des Wahnsinns“ sitzt ein Held, dessen Aufgewühltheit sich durch nichts sedieren lässt, weder durch Körpernähe noch durch Entzug. Der Held ist Übersetzer und hat das Switchen der Sprachen gelernt, ähnlich muss er auch mit seiner Sexualität vorgehen, in der Öffentlichkeit bewegt er sich vorsichtig durch die Homosexualität, in der Intimität gibt es keine Barrieren.

gerhard henschel, erfolgsromanDie größte Frage, die einen denkenden Menschen bewegt, lautet in etwa: Wie liegt meine mickrige Biographie in der Geschichte? Tatsächlich wird man im Laufe des eigenen Lebens unsicher, was nur für einen selbst interessant ist und was für eine größere Allgemeinheit.

Gerhard Henschel stellt sich dieser Frage mit seinem Giga-Projekt diverser Gattungs-Romane. Mittlerweile gehört es schon zum nützlichen Besteck des Reflektierens, dass man sich alle zwei Jahre den neuesten Henschel holt, um ein Stück unmittelbarer Zeitgeschichte durchzugehen und dabei das eigene Leben zu verorten.

gertrude maria grossegger, wendelWas ein eigentümlicher Charakter ist, braucht eine eigene Sprache dafür, und auch dann ist ihm nur bedingt mit Sätzen beizukommen. In der Romantik hat man solche faszinierenden Menschen oft eine schöne Seele genannt.

Gertrude Maria Grossegger nennt ihren Helden amtlich Wendelin, aber als Figur mit spezieller Identität wird er zum Wendel. Dadurch ist er einmalig wie der ganze Roman, den er bestreicht. In nicht ganz dreißig Episoden zeigt sich Wendel dabei als hintersinniger, geradliniger, ungebrochener Mensch, der sich dadurch von der Umwelt zu schützen weiß, dass er sich abduckt, zusammenrollt und herunterfährt. Am idealsten geschieht diese Maßnahme, indem man in einen Sack kriecht.

alexandra bernhardt, Hinterwelt oder Aus einem SpiegelkabinettIn einer Zeit, wo Bücher hauptsächlich über die Krimi-Schütte verkauft werden und entweder ein gedruckter Tatort oder Landkrimi sind, gerät die Kunst eines komponierten Buches zunehmend in Vergessenheit. Dabei ist nicht nur das haptische Empfinden als Information gemeint, auch Layout und Komposition sind in diesen guten standhaften Büchern noch eine wesentliche Bereicherung des Lesegenusses.

Alexandra Bernhardt präsentiert in ihrer „Hinterwelt“ vordergründig zehn Erzählungen, die einen zweifachen Zugang verheißen. Einmal könnte es sich um Ereignisse aus der Hinterwelt handeln, wie sie in entlegenen Geographien und Hirnen nur mehr selten vorkommt, zum anderen sind es natürlich Meta-Geschichten, die etwas dahinter erzählen, was vorne kunstvoll inszeniert worden ist.

thomas sautner, der erfindung der weltSchöpfungsgeschichten haben meist einen Prolog, in dem das Wesentliche erzählt wird. Bei der Erschaffung der Welt geht es nämlich wie in der Genesis darum, dass zuerst nichts ist, und dann durch einen Erzähltrick plötzlich die komplette Welt eruptiert. In der Bibel funktioniert das mit dem Satz vom „Anfang war das Wort“, beim Faust mit der Sonne, die nach alter Weise kreist, im Taoismus beginnt die Welt als mathematische Formel, wonach die Eins die Zwei hervorbringt.

Thomas Sautner hat sich für die „Erschaffung der Welt“ ebenfalls einen funktionierenden Erzählhandgriff einfallen lassen. In der Welt der Stipendien- und Auftragsliteratur wird die Literatur erschaffen, indem plötzlich Kohle auf das Konto der Autoren kommt und vielleicht noch die Durchsage, wie viel Zeichen der abzuliefernde Text haben soll.

felix philipp ingold, die blindgängerinEine sorgfältige Erzählung kümmert sich auch um das Umfeld, in welchem sie entstanden ist. Die Erzählsituation wird gemeinsam mit dem Leser in Frage gestellt. Erzähl-beruhigende und -aufwühlende Hinweise halten sich die Waage.

Felix Philipp Ingold geht gleich mit einem spektakulären Doppelbild mitten in die Erzähl-Sache. Er berichtet von einem Jeep, den der Erzähler offensichtlich restauriert hat, es gibt nämlich ein Altar-ähnliches Flügelbild mit dem Jeep vor und nach der Restaurierung. Aber auch der Autor wird gleich in Frage gestellt, schließlich handelt es sich bei Felix Philipp Ingold um einen Kunstnamen, den sich der Ich-Erzähler spaßhalber zugelegt hat, weil das Wort Felix darin vorkommt.

gerhard henschel, fussballfieberEin Literatur-Genre ist für den Leser nur zweimal interessant: einmal, wenn es erfunden wird, und ein andermal, wenn es beendet wird. Dazwischen liegt Massenware, die der kluge Leser beiseite lässt, um das Leben nicht mit finsteren Wetterlagen im Kopf zu belasten.

Gerhard Henschel hat sich ein verrückt gutes Konzept für seine Romane zurechtgelegt. Er beendet einfach die jeweiligen Genres, indem er sie ad absurdum und somit zur Vollendung führt. Nach ihm gibt es keinen Arbeiter-, Liebes- oder Bildungsroman mehr, er sprengt sie alle mit ihrem eigenen Erzählstoff. Jeder Genre-Roman implodiert, wenn man ihm die Vorlage nimmt. Mit der Fließbandtheorie könnte man sagen, die Fließbandarbeit ist zu Ende, wenn das Fließband abgebaut ist.

elke steiner, über das licht gedrehtDie schaurige Geschichte vom Erlkönig, der mit seinem toten Kind durch den eigenen Wahnsinn reitet, lässt sich auch psychologisch deuten. Da identifiziert sich ein Held so heftig mit der Rolle, dass er die Geschichte mit toten Bruchstücken zu Ende bringt, auch wenn die Story schon tot geritten ist.

Elke Steiner zeigt in ihrem Roman „Über das Licht gedreht“ eine Heldin, die mit dem Verlust ihrer frühgeborenen Tochter nicht zurecht kommt und durchdreht. Gleich zu Beginn steigt Hanna spät in der Nacht in einem Hotel ab, sie ist von der Anfahrt verwirrt. Nach dem Einchecken merkt sie, dass sie ihre Tochter Emmelyn (mit Ypsilon) im Auto vergessen hat. Das Personal wundert sich noch, wie man so ein Kind vergessen kann, aber die Müdigkeit scheint auch verrücktes Verhalten erklärbar zu machen.