oskar aichinger, ich stieg in den zug und setzte mich ans fensterDie Eisenbahn ist nur so nebenher ein Transportmittel, eigentlich ist sie seit fast 200 Jahren ein Stück Kultur, staatstragend wie die Oper, unvergesslich wie die Nationalbibliothek, aufregend wie die Bundeshymne.

Oskar Aichinger weiß um die Magie der Eisenbahn, weshalb er ein erzählendes Ich, das ungeschminkt zu ihm hält, in einen Zug steigen lässt und am Fenster platziert. Ausgangspunkte der ÖBB-Reisen sind zum einen die Kindheit in Oberösterreich, zum anderen Wien als Drehscheibe, von der aus sich die Lokomotiven über die Schienenstränge der Republik hermachen.

willi giuliani, ein innsbrucker westernJe globalisierter im Netz die Literatur auftritt, man spricht ja von Weltliteratur, umso punktgenauer muss sich darin die Lokalliteratur bewähren. Ein aufregendes „Lokalprogramm“ liefert dabei die Innsbrucker Verlagsbuchhandlung Wagner’sche, die als eine der ältesten der Welt schon alle möglichen Literaturformen erlebt hat. In der Serie „Erinnerungen an Innsbruck“ sind mittlerweile gut zwanzig Bände über Stadtteile, Berufe und besondere Schicksale erschienen. Umgerechnet auf die Bewohner des jeweiligen Themas erreicht diese Serie grandiose Vertriebszahlen.

Willi Giuliani beackert für das Regal „Erinnerungen an Innsbruck“ den Stadtteil Höttinger Au, der bis in die 1940er Jahre Sumpf, Brache und aufgelassene kaiserliche Jagd gewesen ist. Der Stadtteil wird ähnlich entwickelt wie der sogenannte Wilde Westen, zumindest was Tiere und Pflanzen betrifft, wird dabei ähnlich brutal vorgegangen wie beim Feldzug amerikanischer Siedler in Richtung El Dorado. Auf das Gold umgerechnet wäre im konkreten Fall das verheißene Paradies der Innsbrucker Flughafen, auf dem ja auch tatsächlich so manches touristische Nugget geschürft wird.

heinz pachernegg, auf reisenDer Tourismus ist an die Erfindung der Fotografie gekoppelt. Wo es nämlich nichts zu fotografieren gibt, hat es auch keinen Sinn, hinzufahren. Umgekehrt muss ein Fotograf ständig mit touristischer Geste unterwegs sein, will er seinen Pixelspeicher am Jahresende voll haben.

Heinz A. Pachernegg ist als Berufsfotograf und Fotoessayist viel „auf Reisen“ und kommt daher dem berühmten Beatnik-Motto „on the road“ sehr nahe, wonach Menschen, Wörter und Bilder ständig zu sich selbst unterwegs sind. Das Zusammenschmelzen dieser drei Bewegungskörper geschieht in der Pareidolie, wie Andrea Wolfmayr in ihrem Einleitungsessay bemerkt. Pareidolie bezeichnet das Phänomen, in Dingen und Mustern vermeintliche Gesichter und vertraute Wesen oder Gegenstände zu erkennen.

rudolf lasselsberger, willi und die mohnblumenIm Idealfall steht einem als realistischem Schreib-Helden ein literarischer Freund bei, der so etwas ist wie ein Medium, eine Therapie, der Kater am Morgen oder das Passwort für eine verzwickte URL.

Rudolf Lasselsberger hat nun schon seit längerer Zeit das Glück, dass ihm Willi beim Schreiben und Leben beisteht. „Willi und die Mohnblumen“ heißt Band sieben der Willologie. Das Thema ist das Auffächern der Ereignisse in verschiedene Gleichzeitigkeiten.

wolfgang hermann, insel im SommerWenn etwas gebrochen ist, muss die Literatur wie ein Stützverband um die kaputten Stellen gelegt werden. Dabei ist viel Heilungsglaube vonnöten, sonst wirkt es nicht.

Wolfgang Hermann erzählt in der luziden Form einer Sommergeschichte vom allmählichen Verschwinden der Düsternis, wenn die Trauer sich verflüchtigt. Gleich zu Beginn legt sich Schockstarre über den Icherzähler, er hat in seiner Wiener Wohnung seinen Sohn tot im Kinderzimmer gefunden. Wann das genau gewesen ist, spielt keine Rolle, seither nämlich ist alles anders. „Wenn es geschehen ist, kann man sich das Leben vorher nicht mehr vorstellen.“ (41)

karl-markus gauss, die jahreszeiten der ewigkeitDas wahre Schreiben beginnt für jene Schriftsteller, die es ernst meinen, erst im Alter. Dort entsteht nämlich ein unverwechselbarer Ton und es müssen keine Geschichten mehr zugekauft oder erfunden werden, weil diese der Schreibvorgang selbst spendet.

Karl-Markus Gauß kommt ohne Plot aus, weil er sich dem gereiften Schreibfluss anvertraut, so dass er Erlebnis-logisch im Duktus eines Flaneurs durch jene Jahre kommt, die zu beschreiben er sich vorgenommen hat.

Zum sechzigsten Geburtstag wünscht er sich Lust und Kraft, fünf Jahre lang das Leben sowohl aus der Innenperspektive heraus, als auch als Vorstufe einer individuellen Geschichtsschreibung zu denotieren. Jetzt mit 67 und eine Pandemie später zeigt er ein Buch vor, in dem Geschichte steht, statt Corona.

egyd gstättner, ich bin kaiserPatriotisches Selbstbewusstsein kann manchmal in einen Cäsarenkult übergehen, wenn das Land mitspielt und den darin geäußerten Wahnvorstellungen ein Revier gibt. Das bayrische „Mia san mia“ ist genauso patriotisch-pfiffig, wie das berüchtigte „Ik bin ein Berliner“. Da ist die Weltformel eines Österreichers geradezu romantisch: Ich bin Kaiser.

Egyd Gstättner nennt seinen jüngsten Erzählband über österreichischen Wahnsinn schlicht: Ich bin Kaiser. Dabei lässt er offen, ob nicht schelmisch der Kärntner Landeshauptmann gemeint sein könnte. Denn die Glaubwürdigkeit für seine Geschichten leitet er von der Überlegung ab, dass die Storys automatisch „tolldreist“ werden, wenn man sie so erzählt, wie die offizielle Geschichtsschreibung täglich als Fernsehprogramm des Staatsfunks auftritt.

barbara tilg, weltachseWenn jedem Menschen eine eigene Welt innewohnt, müsste man mit diesen Welten kommunizieren können, indem man sich ihre Weltachsen unter die Lupe nimmt.

Barbara Tilg stellt in ihren fünf Erzählungen ein paar dieser „Weltachsen“ vor, die teils sichtbar aus den Menschen hinausragen als Defekt, teils unsichtbar erahnt werden müssen im geduldigen psychologischen Gespräch.

manfred chobot, das hortschie-tier und die lurex-frauDie aufregendsten Texte sind einerseits überall anzutreffen, wo man sie nicht sucht, andererseits findet man sie garantiert nicht in einer geordneten Schublade. In einer Bibliothek stehen solche Überraschungen am ehesten zwischen den Regalen und außerhalb der Ordnung eines Alphabets.

Manfred Chobot ist Spezialist für Überraschungen, die scheinbar immer schon da sind. Einmal schürft er als Dialekt-Magier spontane Fügungen ans Gesprächslicht, ein andermal bringt er während einer Recherche die Dinge zum Sprechen, und am verlässlichsten ist er an der Kante zwischen Traum und Wachsein, Findung und Erfindung, wahr und wahrscheinlich anzutreffen.

arnold dall'o, mein handatlasÄhnlich dem Rechenschieber und dem Schwindel-Wörterbuch für die Schularbeit ist der Atlas ein didaktisches Erinnerungsstück, das von einer Welt berichtet, als die Dinge noch zum Angreifen waren, so weit weg sie auch sein mochten.

Arnold Mario Dall’O hat als Graphik-Künstler Zugang zu den bedeutendsten Atlanten der Welt, ein paar hat er in seiner Selchkammer für Piktogramme gelagert. Manchmal blättert er in den Schätzen, manchmal riecht er auch nur daran. Jedenfalls entsteht schon beim leisesten Öffnen eines Atlas vollkommene Inspiration.