Jörg Waldhauser, Rondine
Vor Jahrzehnten, als die Heranwachsenden noch hirnlos in den Tag hineinstudiern konnten und anschließend einen Job ins Maul geflogen bekamen, machte in Tirol ein seltsames Gerücht die Runde: In Hall sitzt in der Nudelfabrik während der Nacht ein Philosoph an der Pforte und sinniert während seiner Aufsicht über den Sinn der Welt nach.
Beim „Nacht-Denker“ handelt es sich um Jörg Waldhauser, der im aktuellen Jahrhundert durchaus anerkannt seine Gedankenrunden durch diverse Veranstaltungen dreht und stets ein aufgewühltes Gefühl bei den Angetörnten hinterlässt. Auch wenn man den Gedanken oft nicht nachfolgen oder gar zustimmen kann, so bleibt doch ein zarter Rüttler im Gedächtnis, wie wenn man einen Weidezaun (heute Wolfsmanagement) berührt hätte.
Diese Einschätzung zu Lebzeiten berücksichtigt jenen Teil der Literatur Jörg Waldhausers, die dieser als eine Art „philosophische Performance“ zur Anwendung brachte. Erst nach seinem Tod kamen die Schriften, Bilder und Materialien zum Vorschein, die als Nachlass seit 2019 im Brenner-Archiv sondiert werden.
Als nachgelassene Bild-Ikone gilt mittlerweile die mit roter Leuchtschrift auf ein Papier gesetzte Botschaft am Tag seines Todes, womit er seine „letzten Worte“ dramaturgisch abrundete. „ich liebe alle“ (165)
Der Erinnerungsband ist nach einer von ihm beschrifteten Mappe mit „Rondine“ überschrieben, was im Italienischen neben Schwalbe soviel wie „das Schlucken“ heißt. Der Ausdruck ist philosophisch und hintersinnig. Die Werke können wie edle Speisen in die Verdauung eintreten, wenn sie gut gekaut und geschluckt sind, es liegt aber auch der psychologische Aspekt nahe, wo es um das Hinunterschlucken geht, woraus ein gewisses Angefressen-Sein resultiert. Und vom Augenblick des Wimpernschlags aus gedacht bedeutet schlucken so viel wie stutzen, innehalten.
Diese drei Schlucktechniken lassen sich auf die drei Hauptstränge des Werkes auch vom Leser anwenden, um das Werk in die Fermentierung der Rezeption zu bringen.
Von den Gedichten bleibt das groteske Staunen über Innsbruck als Nachklang in Erinnerung.
Innsbruck // Innsbruck, / Stadt, / die alles verheimlicht. / Man findet sie nicht. // Denkt man, / ihr Bürgermeister / kennte sie / er ahnt sie nicht. // Schonet / das Kind / das hier geht / und vielleicht etwas vernimmt. (33)
Diese Ambivalenz zwischen sich selbst verstecken und etwas verheimlichen schiebt die Entscheidung auf das Kind. In der nächsten Generation wird man vielleicht entdecken, was es mit den Innsbrucker Geheimnissen auf sich hat und was diese Stadt verschleiert.
In einem weiteren Innsbruck-Gedicht „Jännerlicht“ (48) gerät die Stadt in einen direkten Vergleich zu Rio de Janeiro, was dem Jännerlicht zu verdanken ist. Diesem ist es nämlich egal, wo es zu scheinen hat. In diesem Gedicht ist lyrisch lapidar die Welterfahrung zusammengetragen, die jeden erfasst, der mehr von der Welt gesehen hat als dieses bloße Innsbruck. Über das Transportmittel „Licht“ ist es schließlich möglich, der irdischen Geographie zu entkommen und so etwas wie Gaia, Rhea, das Auge und das Licht miteinander in Verbindung zu bringen.
Das Gegenteil dieser knappen, oft zu einzelnen Wörtern eingeschmolzenen Fügungen über einen kurzen Augenblick der Erkenntnis sind die weit ausholenden Kreisbewegungen in den Essays. Im sogenannten Vortragsstil, der auf gestellte Fragen gleich selbst die Antwort folgen lässt, wird die „Einheit der Wirklichkeit“ (61) vorgestellt. Die beinahe satirische Getragenheit eines fiktiven Wir bindet das Publikum semantisch ein in die Gedankengänge, lässt ihm aber keine Chance, diese zu unterbrechen oder Widerspruch anzumelden.
Die Vorträge beeindrucken mit der Dynamik, mit der sie vorbereitet und realisiert sind. Auch in schriftlicher Form ist viel von dem Druck zu spüren, den der Autor zwischendurch abgelassen hat. Die viele Nachtarbeit, das ständige Spazieren und Sinnieren sind den Themen anzumerken, sodass man sich als Publikum klugerweise erst etwas einstimmt, ehe man sich auf diese Kaskade von Gedankenfällen einlässt.
Die Bilder zeigen vor allem den Jörg Waldhauser in seiner südamerikanischen Epoche. Ganz im Unterschied zu seinen explodierenden Vorträgen ist er im Bild der stille Aquarellist, der Landschaften und Stimmungen zurückbiegt auf meditative Signale, Striche und Zeichen.
In einem Dreischritt könnte man das Leben des Philosophen, Archäologen, Malers und Denkers mit den Locations Innsbruck-Brasilien-Hall zu einem Verortungssymbol zusammenfassen. In Innsbruck geht es ums Studieren, in Brasilien ums Entwickeln eines adäquaten Lebensstils, in Hall schließlich um die Verwirklichung der Träume und Gedanken. Das wichtigste Ereignis, auf das alles zustrebt und später wieder sich davon entfernt wie in einem frommen Gemälde der Fingerzeig Gottes, ist der Austritt aus der Kirche 1976. Auch darin ist im Land der Prozessionsgeher der Pionier der Wahrheit spürbar.
Rondine ist ein beeindruckendes Schauglas aus jenen acht Kassetten, die jetzt im Brenner-Archiv stehen und dort hoffentlich nicht katholisch ausgepackt und gedeutet werden.
Jörg Waldhauser, Rondine. Gedichte – Prosa – Bilder, herausgegeben von Peter Teyml
Innsbruck: Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative TAK 2022, 170 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-900888-79-4
Weiterführende Links:
Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative: Jörg Waldhauser, Rondine
Regiowiki: Jörg Waldhauser
Lexikon Literatur in Tirol: Peter Teyml
Helmuth Schönauer, 01-08-2022