Kurt Bracharz, Mein Appetit-Lexikon

Buch-CoverZum Frühstück werden Prinz Charles sieben unterschiedlich weich gekochte Eier serviert, aus denen der Prinz jenes für seine Tagesverfassung passendste auswählt und verzehrt. (69)

Allein diese Geschichte könnte Stoff für einen Bachmann-Preis-Roman sein, aber der Gastrosoph Kurt Bracharz verpackt seine Wahnsinnsgeschichten über Essen, Trinken und den ständigen Appetit in süffisante Lexikon-Einträge.

Seit zwanzig Jahren verfasst Kurt Bracharz Glossen und Essays über das Essen und die damit einher gehenden Kulturtechniken. Jetzt hat er seine Appetit-Einträge alphabetisch geordnet und upgedatet. Denn nicht nur die Mode ändert sich zwei Mal im Jahr, das Essen, das ja öffentlich als Mode zelebriert wird, verändert sich ebenfalls ununterbrochen. So gibt es etwa einen Absinth-Hype, der dann von einer Ballaststoff-Orgie abgelöst wird, dann zischt wiederum das Kernöl an die vorderste Salatfront, ehe es vom Spargel-Kult aufgetunkt wird.

Einzig Eier und Gänse haben immer Saison, zumindest in der Gastro-Presse, denn Ostern kommt immer und das Martini-Gansl überdauert schon ganze Generationen von Speise-Lüstlingen.

Da Kurt Bracharz nur über Dinge schreibt, die er kennt oder mag, ergibt sich durch das Lexikon eine schöne kulturelle Stimmung, was einem sinnlichen Autor in den Neunzigern und Nuller Jahren so alles unterkommt, was die Zeit tatsächlich prägt und was bloße Mode ist.

In den jeweiligen Einträgen ist so gut wie alles, was sich erzählen lässt, untergebracht. Da erfährt man etwa, dass beim Untergang der Titanic eine Speise mit Safran serviert worden ist, gleichzeitig wird berichtet, dass in der Literatur früher der Safran als sehr fad beschrieben worden ist. Dann gibt es wiederum so ökonomische Hinweise wie eine Mengenangabe, dass man mit zehn Gramm Safran ein Jahr lang jede Woche ein Risotto für sechs Personen kochen kann.

Verschrobene Küchentechniken, opulente Maßeinheiten, physikalische Vorgänge bei der Verdauung und politische Begleitmusik beim Anbau seltener Pflanzen gehen nahtlos in einander über.

Das Appetit-Lexikon nimmt den jeweiligen Begriff aus der Welt des Essens und Trinkens bloß als Anlass, um darum herum eine Geschichte zu erzählen. So kriegt Hildegard von Bingen nicht nur ein eigenes Kapitel sondern auch gleich eine gehörige Portion Fett ab.

Zum Unterschied zu den Kirchengeschichtlern glauben die Germanisten längst nicht mehr, dass die naturwissenschaftlichen Schriften tatsächlich auf Hildegard von Bingen zurückgehen. Die Psychiater halten ihre Visionen für klare Beschreibungen der Phänomene einer auratischen Migräne. (121)

Kurt Bracharz geht scharf und geschmackssicher mit seinen Gerichten zu Gericht. Die wahre Literatur kümmert sich immer um Leib und Leben, so gesehen macht das Lexikon Appetit auf einen ständig neu aufgekochten Lebenssinn. - Frech und schön!

Kurt Bracharz, Mein Appetit-Lexikon.
Innsbruck: Haymon 2010. 350 Seiten. EUR 19,90. ISBN 978-85218-633-7

 

Weiterführende Links:
Wikipedia: Kurt Bracharz
Haymon-Verlag: Kurt Bracharz, Mein Appetit-Lexikon

 

Helmuth Schönauer, 29-06-2010

Bibliographie

AutorIn

Kurt Bracharz

Buchtitel

Mein Appetit-Lexikon

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Haymon

Seitenzahl

350

Preis in EUR

19,90

ISBN

8-85218-633-7

Kurzbiographie AutorIn

Kurt Bracharz, geb. 1947, lebt in Bregenz.