Franz Tumler, Nachprüfung eines Abschieds

Manchmal ist eine Erzählsituation so eindringlich, dass man von der ersten Zeile an im Text eingegraben nach einer Lösung sucht.

Eingegraben in Erinnerung ist die Grundkonstellation des Erzählers in Franz Tumlers „Nachprüfung eines Abschieds“ aus dem Jahre 1961. In einem Haus, das eine Ruine ist, sitzt der Beobachter im Keller, schaut ins Freie und die Erd-Kante verläuft dabei in der Höhe des Mundes draußen zur Straße zu.

In dieser Position entwickelt sich eine Erzählung, oder der Erzähler entwickelt sie, oder gar der Leser, wenn er an dem Text dran bleibt.

In drei Kapiteln, von denen das folgende immer doppelt so lang ist wie das vorausgegangene, entsteht so etwas wie eine Begegnungsgeschichte, später eine Liebesgeschichte, schließlich eine Trennungsgeschichte.

Im ersten Kapitel geht es in der Ruine quasi um einen eingebunkerten Erzählstandpunkt, im zweiten Teil begegnen sich Ich-Erzähler und Frau auf einem Bahnhof, an dem Züge abbiegen und zusammengeführt werden, im dritten Teil schließlich überprüft der Erzähler, wie es zur Begegnung und Trennung gekommen ist. Dabei enden Gedankengänge zwischendurch lapidar wie in einer simplen Geschichte.

Heute spreche ich mich schuldig, damals spürte ich nichts von Schuld. Die Sache dauerte ein paar Jahre. Der Mann kam dahinter, die Frau verließ ihn, sie ging zu ihren Verwandten. Sie rechnete mit mir, daß ich sie heiraten werde. Ich ließ sie im Stich. (58)

An manchen Stellen versucht der Erzähler einfach die Geschichte auszusitzen, wie man so schön sagt.

Die Zeit ist ein Hilfsmittel und auch die Einbildung, daß wir in ihr leben und überhaupt zu leben glauben, ist ein solches Hilfsmittel, eine Erfindung der Erzählung. (83)

Und obwohl der Erinnerungsvorgang letztlich genauso lange dauert wie der erinnerte Vorgang, lasst sich nichts abkürzen oder beschleunigen, im Gegenteil, die Erinnerungsbrocken fallen oft völlig unstrukturiert ein und der Erzähler hat alle Hände voll zu tun, Ordnung in die Sache zu kriegen.

Ich bemühe mich, es in Ordnung und Reihenfolge vorzubringen.“ (58)

Franz Tumlers Erzählung ist ein rasend ruhig gehaltener Versuch, der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen. Was ist Realität, was bilden wir uns ein, kann etwas außerhalb unserer Einbildung existieren? Und in der Folge werden dann so schwere Begriffe wie Liebe, Zeit und Gefühl eingegrenzt im eigenen Vorstellungsgebäude. - Zeitlos, genau, aufregend.

Franz Tumler, Nachprüfung eines Abschieds. Erzählung. Mit einem Nachwort von Johann Holzner.
Innsbruck: Haymon 2012. (= Franz Tumler Werkausgabe). 117 Seiten. EUR 17,90. ISBN 978-3-85218-702-0.

 

Weiterführender Link:
Haymon-Verlag: Franz Tumler, Nachprüfung eines Abschieds

 

Helmuth Schönauer, 02-02-2012

Bibliographie

AutorIn

Franz Tumler

Buchtitel

Nachprüfung eines Abschieds

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Haymon-Verlag

Seitenzahl

117

Preis in EUR

17,90

ISBN

978-3-85218-702-0

Kurzbiographie AutorIn

Franz Tumler, geb. 1912 in Gries bei Bozen, lebte in Linz und Berlin, starb 1998 in Berlin.