Gerhard Henschel, Bildungsroman

Man muss die Literaturwissenschaft nur wörtlich nehmen, dann hat man stets genug Stoff für Unterhaltung.

Gerhard Henschel hat sich so große Begriffe wie Kindheitsroman, Jugendroman und Abenteuerroman zu Herzen genommen und seinen Helden Martin Schlosser durch diese fetten Gattungen gejagt. Als ob der Held, der zumindest dem Namen nach so was ist wie seines Glückes Schmied und ein Türöffner für neue Welten, als ob Martin Schlosser noch nicht kaputt genug ist, wird er jetzt noch durch den Bildungsroman geschickt.

Die Gattung sagt alles, der Held wird zurechtgebogen für diese Welt, indem er zuerst den Zivildienst herunterbiegen muss und dann auf die Unis kommt. Unter Uni ist so was wie ein Flanieren von Kickern auf Fußballfeldern zu verstehen, man spielt mal auf dieser oder jeder Uni und wechselt dann das Fach und macht wo anders weiter.

Martin Schlosser kreist im Dreieck Bielefeld, Göttingen, Berlin herum, Fixpunkt ist eigentlich das Elternhaus im Emsland, wo ununterbrochen das Dach gedeckt werden muss.

„Aufstehen? Morgens? Wozu?“ (159) Der Held bummelt durch den Brei des Studiums und bleibt immer wieder stecken. Während scharfe Vorlesungen über die neue Sachlichkeit gehalten werden, breiten sich die Studenten mit ihrem Strickzeug aus.

Es ist so um die Jahre 1983 bis 1985 herum, Kohl ist Bundeskanzler und verleidet einem mit seinem trüben Auftritt das Zeitungslesen, die Grünen breiten sich mit Bio-Geschwindigkeit aus, die DDR schikaniert bei den Durchfahrten nach Berlin.
Richtiges Studieren geht so: Adorno lesen und Tee saufen. (411) Der germanistische Kanon von Achternbusch über Kempowski bis Arno Schmidt wird ordentlich zur Brust genommen, aber es läuft alles in einer Parallelwelt zur Politik ab.

Dann verliebt sich der Held noch ein paar Mal, einmal so heftig, dass er vielleicht aus seinem eigenen Bildungsprogramm aussteigen wird.

Gerhard Henschel erzählt in seinem sarkastischen Bildungsroman von dieser großen Wolke, die sich wohl schon seit Jahrhunderten über die deutsche Geisteswissenschaft legt wie eine Komplementärwelt zur Politik. Helden, die so studieren wie Martin Schlosser, werden ein Leben lang an der Politik leiden, die auf solche Leidensgenossen angewiesen ist.

Die jeweilige Kanon-Literatur der Germanistik ist eine Modeerscheinung, die nichts bewirkt, außer dass die jeweiligen Jahrgänge dadurch einen Prüfungsstoff bekommen. Der Bildungsroman ist eine deutsche Spezialität, Martin Schlosser ist ein hervorragender Spezialist für Watte und Wurst, die darin herumschwimmen. – Von der Ironie zur Depression und zurück.

Gerhard Henschel, Bildungsroman.
Hamburg: Hoffmann und Campe 2014. 572 Seiten. EUR 25,70. ISBN 978-3-455-40450-0.

 

Weiterführende Links:
Hoffmann und Campe: Gerhard Henschel, Bildungsroman
Wikipedia: Gerhard Henschel

 

Helmuth Schönauer, 05-08-2014

Bibliographie

AutorIn

Gerhard Henschel

Buchtitel

Bildungsroman

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Hoffmann und Campe

Seitenzahl

572

Preis in EUR

25,70

ISBN

978-3-455-40450-0

Kurzbiographie AutorIn

Gerhard Henschel, geb. 1962 in Hannover, lebt in der Nähe von Berlin.