Naira Gelaschwili, Ich bin sie

Titelbild: Naira Gelaschwili, Ich bin sieDie Liebe kann neben allerhand Störungen oder Zauberkräften auch eine satte Identitätskrise auslösen.

Naira Gelaschwili erzählt von einem Mädchen, das es aus den Schuhen wirft, als gegenüber im Hof ein attraktiver Student einzieht. Die Erzählerin ist knappe zwölf, als sich die Wahrnehmung vollends verändert, nichts ist mehr wie gestern, die Umgebung hat sich in pures Gold verwandelt, worin ER herumschwimmt wie in einem Aquarium puren Glücks. Das ganzes Jahr 1960 fühlt sich plastisch an, der Sommer, der Herbst, und selbst der Schnee ist plötzlich warm, wenn der Blick zu ihm über den Hof huscht.

Der Angebetete kriegt von diesem Liebsspuk nichts mit, er bewegt sich ungezwungen und ungekünstelt, was die Beobachterin fast rasend macht. Einmal kommt es zu einer zufälligen Begegnung, die aber keine Verhaltensänderung bewirkt, außer dass die Heldin unbedingt Deutsch lernen will, weil ER Deutsch spricht.

Die Lava jener Tage kommt nur allmählich unter einer dünnen Haut von Alltagspatina zur Ruhe. Kleine Bemerkungen von irgendjemandem oder eine Erinnerung an einen Geruch aus jener Zeit genügen, um diese märchenhafte erste Liebe wieder zum Kochen zu bringen.

Inzwischen hat sich Tiflis verändert, die Sowjetunion ist beendet, die neue Republik ist mit Kriegswehen geboren. Die Erzählerin versucht, den damaligen Angebeteten ausfindig zu machen, jetzt in der neuen Zeit könnte man zumindest einmal überlegen, ob man zusammen was bereden könnte. Aber die Anschlüsse sind tot, die Menschen verzogen, die Vergangenheit ist eine Blase, in die niemand gerne sticht.

Und dann wird es Gegenwart, die Heldin ist reif geworden und imstand, über das alles zu schreiben. Denn seit Jahre quält sie die Überlegung, wie man über so eine Liebe schreiben müsste, handelt es sich doch um einen heftigen Roman, auch wenn er nicht geschrieben ist.

Die Heldin fasst ihren Erzählstandpunkt zusammen: „Ich bin sie“, damit sind die Zustände gemeint, die Zeiten und auch die Rollen, in die man schlüpfen muss.

Jedes Leben mit einem halbwegs runden Ende besteht aus diesen drei tragenden und tragischen Elemente, aus Kindheit, aus Todesnähe und aus unbeantworteter Liebe. (144)

Einst hat die Erzählerin für ihr erstes Tagebuch sogenannte Sonderzeichen entwickelt, halb Abkürzungen, halb Verschlüsselungen. Mit diesen Zeichen sind Umarmungen, Schleifen, Witterungen und Piktogramme der Sehnsucht ausgedrückt. Niemand kann diese Rätsel lösen, weshalb sie dann doch jemand aufschreiben muss für einen Roman. Buchlesen nämlich kann angeboren sein. (137) - Ein Liebesroman, der ein ganzes Genre mit einem Ruck weiterbringt.

Naira Gelaschwili, Ich bin sie. Roman, a. d. Georg. von Lea Wittek [Orig.: Tiflis 2012]
Berlin: Verbrecher Verlag 2017, 168 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-95732-230-2


Weiterführende Links:
Verbrecher Verlag: Naira Gelaschwili, Ich bin sie
Wikipedia: Naira Gelaschwili

 

Helmuth Schönauer, 12-01-2017

 

Bibliographie

AutorIn

Naira Gelaschwili

Buchtitel

Ich bin sie

Originaltitel

Tiflis

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Verbrecher Verlag

Übersetzung

Lea Wittek

Seitenzahl

168

Preis in EUR

22,70

ISBN

978-3-95732-230-2

Kurzbiographie AutorIn

Naira Gelaschwili, geb. 1947 in Sighnaghi, lebt in Tiflis.