Birgit Müller-Wieland, Flugschnee

birgit müller-wieland, flugschneeDiese weiße Masse, die ständig in der Luft die Richtung wechselt, in alle Ritzen dringt und im Wind die unmöglichsten Skulpturen aufhäuft, ist auch für Psychologen ein metaphorisch höchst aufgeladener Stoff.

Birgit Müller-Wieland setzt gleich zu Beginn die Heldin Lucy dieser Flugschnee-Masse aus. In einem Berliner Garten spielt das Wetter im Dezember verrückt, in der amorphen Wetter-Masse geht jegliche Sicht verloren, und Lucy ist in einen Erinnerungssturm eingetaucht, zumal sie unter Schock steht, weil ihr Bruder Simon verschwunden ist.

Lucy weiß noch nicht, wie in diesem Anstürmen der Gedanken die einzelnen Stränge verknüpft sind, sie ahnt, dass sie am Endpunkt einer langen Familiengeschichte angelangt ist.

In die Vergangenheit lässt es sich nur zurücktasten, wenn man ein größeres Erinnerungsfundament aufbaut, von dem aus die Figuren zusammenlaufen. So ein Erinnerungspolster ist ein Familientreffen vor gut zwanzig Jahren in Hamburg, wo Eltern und Großeltern vorsichtig von ihren ungeraden Biographien erzählt haben.

Dabei ist nichts so glatt abgelaufen, wie man es in der offiziellen Familiengeschichte gerne erzählt, die Frauen haben eine Abtreibung hinnehmen müssen, weil es die Umstände verlangt haben, die Männer sind immer Karrieren am Seidenen Faden hängend nachgelaufen. Was wie eine tolle Professorenstelle ausschaut, ist letzten Endes ein Produkt aus Intrigen und Institutskämpfen. Und auch das lose Herumziehen einzelner Vorfahren durch Europa hat immer auch einen politischen Hintergrund.

Die Protagonisten treten dann auch im Erinnerungsprofil auf, erzählen vom Verschüttet sein in einem bombardierten Nazikeller, von der österreichischen Dorfseele, die in der Großstadt untergeht, von Häusern, die gebaut und abgerissen werden wie Passfotos.

Zwei Bücher helfen letztlich, eine Struktur in den Flugschnee der Familienwitterung zu kriegen. Einmal ist es der Roman „Kollacain“ der schwedischen Autorin Karin Boye aus dem Jahre 1940, und zum andern der Epochenprägende Roman „Die Ästhetik des Widerstands“, worin Peter Weiss das Anrennen der persönlichen Bildungsgeschichte an die Mauern der Gesellschaft beschreibt.

Die Umwelt kennt sich mit Lucy nicht mehr aus, sie hat wieder ihren Schneesturm, heißt es recht hilflos, wenn sich die Heldin immer wieder in ihr Inneres vergräbt. Stimmen, Ermunterungen, Ermahnungen, nur in Bruchstücken dringt das eine oder andere durch das Weiß. Und Simon, da ist doch was, vielleicht ist er als Satzfragment da, vielleicht ist er fort, die Polizei sagt, man kann nicht ausschließen, dass er beim IS ist.

Birgit Müller-Wieland erzählt anhand dieser Familiengeschichte, wie sich so schwer zu lesende Romane wie Kollacain und Ästhetik des Widerstandes als Therapie eignen können, um Ordnung in amorphe Verhältnisse zu kriegen. Anstrengend, aber es scheint zu funktionieren.

Birgit Müller-Wieland, Flugschnee. Roman
Salzburg: Otto Müller Verlag 2017, 343 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-7013-1248-1


Weiterführende Links
Otto Müller Verlag: Birgit Müller-Wieland, Flugschnee
Wikipedia: Birgit Müller-Wieland

 

Helmuth Schönauer, 15-04-2017

Bibliographie

AutorIn

Birgit Müller-Wieland

Buchtitel

Flugschnee

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Otto Müller Verlag

Seitenzahl

343

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-7013-1248-1

Kurzbiographie AutorIn

Birgit Müller-Wieland, geb. 1962 in Schwanenstadt OÖ, lebt in München.