Oleksandr Irwanez, Pralinen vom roten Stern

irwanez, pralinen vom roten sternEin makabrer Stoff setzt sich erst in Romanen ab und dann in der Politik. So entsteht das Phänomen, dass Romane zuerst wie aus einer anderen Welt erscheinen und später zur allgemeinen Wirklichkeit werden, als ob sie in realiter verfilmt wären.

Oleksandr Irwanez, Mitglied der legendären ukrainischen Literatur-Gruppe BuBaBu, veröffentlicht 2001 den Roman „Mauer“ in einer Untergrundedition. Da ist die Ukraine noch unversehrt und zumindest geographisch ein von allen akzeptiertes Gebilde. Im Roman geht freilich eine Mauer durch die Stadt Riwne wie einst durch Berlin. Im Westen der Ukraine nämlich hat sich die WUR etabliert (Westukrainische Republik) und im Osten ist die Republik in ein großes Retro der Sowjet-Zeit gefallen. Der Roman erzählt also scharfsinnig prognostisch den Zustand von 2017, nur dass die Gebietsaufteilung seitenverkehrt ist.

Der Schriftsteller Schlojma Ezirwan wacht an einem 17. September mit Schädelweh und Kater auf und weiß, dass er in einen historischen Tag geraten ist. An einem 17. September ist nämlich 1939 die Sowjetunion in die Ukraine eingefallen und hat sich ihren Teil vom Hitler-Abkommen geholt. Im Jahr 200x freilich soll ein Stück des Helden aufgeführt werden, er bemüht sich um klaren Kopf.

Aber irgendetwas mit der Logik geht schief, Schlojma kriegt einen Erlaubnisschein, auf den er schon zwei Jahre gewartet hat, dass er seine Angehörigen im Osten der Stadt besuchen darf. Jetzt geht es durch eine Mauerschleuse in den Osten, es ist ein Zeitflash, der sich vor allem in Farbgebung zeigt. Die Metalltreppen sind Spinat-grün, die Eingangstüren ölig gelb, der Lift ist meist abgestellt, Taxis muss man in Seitengasen bestellen, die man über Dächer betritt. Wie in einem Kafka wird der Held von einem Schriftsteller-Gremium erwartet, das seinen Roman diskutieren will, den freilich niemand gelesen hat. Dafür gibt es als Spontan-Belohnung Pralinen mit rotem Stern aus der örtlichen Fabrik.

Zusammengeschlagen und zwangsverhört liefert man ihn an das Krankenbett einer patriotischen Schriftstellerin, die als Oblomowka im Bett liegt und ihm ihr finales Manuskript aushändigt. Man schult den Verdutzten noch schnell als Überläufer ein und gibt ihm einen Schlüssel mit für eine geheimnisvolle „Attention“-Tür.

Schlojma wacht irgendwie im Westen auf und erlebt die Uraufführung seines Theaterstücks als surreales Desaster. Als er das patriotische Manuskript aus dem Osten begutachten will, fallt ihm ein Kilo weißes Papier hoher Ostqualität aus den Händen. Alles ist gelöscht, ein Fake oder ein falscher Flash aus der Kindheit. Der Roman löst sich auf, als der Held durch die Attention-Tür geht.

In dieser grandiosen Groteske wird man von Anspielungen überschüttet, die zeigen, wie vorausahnend dieser Roman seinerzeit geschrieben worden ist. In hunderten Facetten zeigt sich eine Geschichtsschreibung zwischen Traum, Prophetie und sarkastischer Erfüllung. Oleksandr Irwanez tut ein neues Genre auf: den ukrain-grotesken Roman, eine Spielart des politischen Dadaismus.
 
Oleksandr Irwanez, Pralinen vom roten Stern. Roman. Mit einem Vorwort von Juri Andruchowytsch, a. d. Ukrain. von Alexander Kratochvil [Orig.: Рівне/Ровно (Стіна), Riwne 2001]
Innsbruck: Haymon Verlag 2017, 224 Seiten, 22,90 €, ISBN 978-3-7099-7247-2


Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Oleksandr Irwanez, Pralinen vom roten Stern
Wikipedia: Oleksandr Irwanez

 

Helmuth Schönauer, 29-11-2017

Bibliographie

AutorIn

Oleksandr Irwanez

Buchtitel

Pralinen vom roten Stern

Originaltitel

Рівне/Ровно

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Haymon Verlag

Übersetzung

Alexander Kratochvil

Seitenzahl

224

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-7099-7247-2

Kurzbiographie AutorIn

Oleksandr Irwanez, geb. 1961 in Lviv, lebt in Irpin bei Kiew.