Rosa S., Ich musste die Rute küssen

rosa s, ich musst die rute küssenWenn die Aufklärung nicht einmal in Zeiten der Globalisierung die Menschen erreicht, wie schlimm muss es erst in Zeiten gewesen sein, wenn alle noch in Tabus und totalitäre Staatsgefüge verstrickt sind?

Rosa S.‘ Lebensgeschichte ist mehrfach gefiltert wie Radioaktivität, mit der niemand ungeschützt in Berührung treten will. Anlässlich einer Radiosendung ist Rosa S. anonymisiert aufgetreten, um von ihrem geschlagenen Leben voller Gewalt zu erzählen. Die Reaktionen sind überraschend und mitfühlend. Die mittlerweile 80-jährige stellt mit Einverständnis ihrer Kinder eine schriftliche Fassung her, welche die Gewalt beschreibt, aber eventuell noch Lebende nicht denunzieren möchte.

Rosa S. kommt als uneheliches Kind zur Welt, ihre Mutter ist verstört und will sich ständig selbst dafür bestrafen, indem es das Kind grundlos schlägt. Egal ob am entlegenen Bauernhof die Sonne aufgeht oder Regen fällt, beides kann Ursache für das Durchpeitschen sein. Dabei kommt es zu perversen Zeremonien, wenn die Erzählerin als Kind die Rute küssen muss, ehe sie geschlagen wird. Diese Rute ist auch die Überleitung zum nächsten Verbrechen. Als der Knecht völlig devastiert vom Krieg nach Hause kommt, vergewaltigt er die Zehnjährige, auch diese Rute will geküsst sein.

Das Kind versteckt sich zuerst unterm Bett, wird aber hervorgezogen wie Schlachtvieh und gezüchtigt. Später dauert die Flucht nur kurze Zeit, ehe die Schläge der Mutter sie wieder erreichen. Pünktlich zum letzten Schultag wird das Mädchen aus heiterem Himmel noch einmal windelweich geschlagen, bevor es sozusagen ausgeschult und erwachsen ist.

Der Bauernhof wird zu einer totalitären Folteranstalt, aus der es kein Entkommen gibt. Die Verwundungen und Verstörungen sind so groß, dass sich die junge Erwachsene später in der Stadt zuerst gar nicht zurechtfindet.

Die Verstörung setzt sich fort, als es zu einer schnellen Hochzeit mit zweiundzwanzig kommt. Es gibt Kinder der Liebe, die entstehen auf Seitensprüngen, und Kinder der Pflicht, die kommen aus der Ehe, sagt der Mann immer wieder und hängt ihr sechs Schwangerschaften und zwei Kinder an. Erst als die Erzählerin zusammenbricht und in die Klinik kommt, bleibt erstmals Zeit, über diese Gewaltorgien zu sprechen.

Die Geschichte bleibt auch der Leserschaft in verstörender Erinnerung, selbst im behutsamsten Nachwort können die Verwundungen nicht aufgefangen werden, höchstens strukturiert. Miriam Pobitzer erläutert die gängigen Strategien der Opfer solcher Familiengewalt, hinschauen und zuhören bleibt die einzige Lösung, wenn die Verhältnisse einmal explodiert sind. Und insgeheim denkt man als Leser an jene Gewalt, die nach wie vor um die Wege ist und nur schwer durch Wegweiserecht und Psychotherapie in den Griff zu bekommen ist.

Rosa S., Ich musste die Rute küssen. Als uneheliches Kind misshandelt. Mein Blick zurück ohne Verbitterung, mit einem Nachwort von Miriam Pobitzer
Bozen: Edition Raetia 2017, 103 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-88-7283-610-1

 

Weiterführender Link:
Edition Raetia: Rosa S., Ich musste die Rute küssen

 

Helmuth Schönauer, 26-10-2017

Bibliographie

AutorIn

Rosa S.

Buchtitel

Ich musste die Rute küssen. Als uneheliches Kind misshandelt. Mein Blick zurück ohne Verbitterung

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edition Raetia

Seitenzahl

103

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-88-7283-610-1

Kurzbiographie AutorIn

Rosa S., anonymisierte Autobiographie, geb. 1937 in einem kleinen Ort in Südtirol, heiratet 1959 mit 22, arbeitet in Bozen, ist beim Aufschreiben der Geschichte 80 Jahre alt.