Andrej Platonow, Tschewengur

andrej platonow, tschewengurBin ich vielleicht Schriftsteller oder was? - Ein Funktionär mitten in der Steppe Russlands ist ganz verzweifelt, dass er den Sozialismus nicht nur organisieren, sondern auch noch erklären soll. (270)

Andrej Platonow stellt dem Funktionär den Schriftsteller nicht als Genossen an die Seite, sondern dieser hat mit der Beschreibung die Politik zu kontrollieren und voranzutreiben, wenn nicht gar alle in eine bessere Zukunft zu hetzen.

Im Roman Tschewengur treten in Don-Quixote-Manier der ehemalige Lokomotiven-Heizer Sascha Dwanow und sein Genossen-Freund Kopjonkin auf dem Pferd „Proletarische Kraft“ eine Wanderung mit offenem Herzen an. Diese Fügung erinnert an eine lebensbedrohliche Operation am Pumpen-Organ und somit an einen radikalen Eingriff in die Optik und das Wording der Neuen Ökonomie NEP, mit der man die Sowjetunion in den 1920er Jahren umkrempeln musste. Kein Wunder, dass Andrej Platonow und sein Roman auf der Strecke blieben, das Meisterwerk aus dem Jahre 1927 durfte erst lange nach dem Tod des Autors 1951 während einer sogenannten Tauwetterperiode erscheinen.

Im Roman selbst brauchen die beiden Helden eine ziemliche Weile, um sich erst einmal durchzuschütteln und zu begreifen, in welchem Wahnsinn das Land lebt. Schon der erste Absatz reißt in romantischer Weise die Landschaft auf und pflanzt darin prekäre Schicksale ein.

Alte Provinzstädte haben schüttere Waldränder. Dorthin kommen Menschen, um direkt aus der Natur zu leben. Da erscheint so ein Mensch mit wachem und traurig abgezehrtem Gesicht, der kann alles ausbessern und einrichten, doch er selbst verbrachte sein Leben uneingerichtet.

Die Menschen werden von Gerüchten und Geschichten heimgesucht, während sie sich auf handfeste Überlebenssätze verlassen müssen. Von ferne und oben kommen Parolen zum Kommunismus, am Boden der Realität landen diese freilich als Lebensweisheiten.

  • Begrab mich in der alten Hose! (22)
  • Zieh die Haut über die Augen und schlaf! (73)
  • Revolution ist leichter als Krieg. (76)
  • Die Revolution ist ein Risiko. (84)

Die beiden Helden fassen sich also ein Herz, um etwas zu diesem übergeordneten sozialistischen Mythos beizutragen, und beschließen, in der Weite der russischen Steppe das Grab Rosa Luxemburgs zu suchen, um wenigstens etwas Handfestes vor Augen und zum Erzählen zu haben.

Bis zur Hälfte des Romans sind die Helden in diversen Gegenden unterwegs, um vor allem den gigantischen Umbau der Landschaft durch Wasserkraftwerke, Dampffabriken und Flussumleitungen zu begutachten.

Die Erde schlief entblößt und qualvoll wie eine Mutter, von der die Zudecke herabgeglitten ist. (257)

Aber auch der Umbau der mürben Menschen zu einer backfesten Klasse ist pathetisch formuliert, ein Lehrer schwärmt davon „aus stinkigem Teig Kuchen zu machen“. (101)

Allmählich wird das sagenhafte Tschewengur immer Phantasie-plastischer, es soll dort tatsächlich schon der Kommunismus eingezogen sein und alles in ein Paradies verwandelt haben. Ein Fakten-Check zeigt freilich eher die Apokalypse, zu Beginn wird gleich einmal die anwesende Bürgerschaft hingerichtet und den Hinterbliebenen befiehlt man: „Weint!“

Während die meisten in Arbeit versinken, die sie zu Halluzinationen zwingt, wird als Hauptberuf die „Seele“ ausgerufen. Alle verrückten spirituellen und esoterischen Gedankengänge werden mit kommunistischem Vokabular gefüllt und anschließend enden diese Experimente meist mit Hinrichtungen. Im allgemeinen Desaster gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Beobachtern, Journalisten, Kämpfern und Überlebenskünstlern. Die Stadt versinkt in einem Philosophikum, das mit Waffen ausgetragen wird.

Auch die beiden Helden erwischt es sie können nach einer grotesken Intervention oft nicht mehr sagen, ob sie es geträumt, erlebt oder spintisiert haben. Am ehesten hat man noch als Pferd eine Chance, die ganze Chose zu überleben. „Proletarische Kraft“ schleckt tatsächlich am Schluss die Wunden des toten Helden aus und rettet sie für die Nachwelt. Jemand sitzt in Leere und Öde und weint, weil jetzt alles sein Eigentum ist. Das Experiment Tschewengur ist gescheitert.

Der Roman wimmelt nur so von Anspielungen und Querdeutungen. Seine größte Aufgabe besteht ja darin, unterhalb des allgemeinen Partei-Wordings die Wahrheit zu erzählen. Das gelingt mit verschiedenen Erzähl-Methoden, vor allem aber dadurch, dass die offizielle Welt wörtlich genommen und dadurch zu einem grauenhaften Märchen wird. Denn die Herrschenden erzählen seit Menschengedenken schiache Märchen und halten sie für Politik.

Andrej Platonow, Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen, Roman. a. d. Russ. von Renate Reschke, mit einem Nachwort von Hans Günther, mit einem dialogischen Essay von Dzevad Karahasan und Ingo Schulze
[Geschrieben 1927; Orig.: Cevengur, Moskau 1989]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, 579 Seiten, 32,90 €, ISBN 978-3-518-42803-0

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Andrej Platonow, Tschewengur
Wikipedia: Andrej Platonow

 

Helmuth Schönauer, 10-06-2018

Bibliographie

AutorIn

Andrej Platonow

Buchtitel

Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen

Originaltitel

Cevengur

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Renate Reschke

Seitenzahl

579

Preis in EUR

32,90

ISBN

978-3-518-42803-0

Kurzbiographie AutorIn

Andrej Platonow, geb. 1899 bei Woronesch, starb 1951 in Moskau.