Markus Bundi, Wirklichkeit im Nachsitzen

markus bundi, wirklichkeit im nachsitzenIn einer sarkastischen Einschätzung der Germanistik muss man natürlich die Freiheit von Forschung und Lehre loben. Da es sich bei der Germanistik aber in der Hauptsache um eine Wissenschaft handelt, die sich ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, muss man ihr von Zeit zu Zeit Themen der Gesellschaft vorgeben, damit sie den Anschluss an die Welt nicht gänzlich verliert.

In Tirol hat man viel Geld ausgegeben, um einen Einheitsverlag zu forcieren, der die offizielle Politik literarisch unterstützt. Außerdem fließt viel Geld in die Nach- und Vorlässe, die natürlich Renditen abwerfen müssen. Wenn diese Kisten schon einmal herumstehen, sollen sich die Germanisten damit beschäftigen, damit sie nicht auf andere blöde Gedanken kommen.

Unter diesen Voraussetzungen hat man vermutlich Markus Bundi ermuntert, wieder einmal einen Essay zu schreiben, damit die Tumler-Kiste nicht in Vergessenheit gerät. Markus Bundi gibt implizit zu, dass er das Handwerk des ehemaligen Brenner-Archivars fortsetzen will, zumal Tumler noch nicht vergessen ist, solange er in akademischen Kreisen noch gelesen wird.

Markus Bundi hat den Tumler mittlerweile im kleinen Finger und ist dennoch immer wieder hingerissen, wenn er auf mehrdeutige Stellen stößt, die sich mit jeder Lektüre anders lesen lassen. In einer fachlich einwandfreien Darstellung teilt er den Tumler zuerst in die fünf Epochen ein: Überraschungsbeginn mit Lausa und Duron; Blut-und-Boden; Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg, eigenes ästhetisches Programm bis zum Schlaganfall, Ausklang. (10)

Die Zeit von 1945 bis 1960 wird als beinahe sprachlose Zeit in Deutschland dargestellt, egal ob jemand geschrieben oder nur geschwiegen hat. In diese Zeit fällt der Roman „Der Schritt“ hinüber, worin es darum geht, etwas zu erzählen, ohne irgendeiner Ideologie verdächtigt zu werden.

Die kreative Zeit bis zum Schlaganfall 1973 könnte man mit den Schlüsselwörtern Aufschreibung, Nachprüfung, Nachsitzen umreißen. Dabei geht es immer um die Kluft zwischen dem Gesagten und Ausgelassenen, die Überlagerung von Wirklichkeiten und die Halbwertszeit von Sätzen, sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben.

Markus Bundi verwendet ausreichend lange Zitate, sodass man sich recht gut auf die Thesen einlassen kann, die anschließend kundgetan werden. Die Schärfe der Gedankengänge ist variabel angelegt, so dass seltsamerweise der Neueinsteiger und der bereits zitierte Akademiker voll auf ihre Rechnungen kommen. Und die einzelnen Wörter lassen sich manchmal „austräumen“, indem man ihnen eine persönliche Deutung unterlegt. So kann das Nachsitzen etwas mit dem schulischen Betrieb zu tun haben, wo man so lange nachsitzen muss, bis man den Stoff kapiert hat, es kann aber auch diese schöne Mischung aus Nachwirkung und Absetzung zu tun haben. Gewiss ist jedenfalls, dass Lesen, Schreiben und Wirklichkeit sich alle paar Augenblicke verändern. Deshalb erwischt man auch nie die richtige Konstellation, weil der Augenblick in jenem Moment schon wieder ein Anderer geworden ist, in dem man ihn ins Auge fasst.

Die Wirkung von Tumler besteht darin, dass er ähnlich einem Markenzeichen einer gewissen Tagesverfassung, Lebenskonsistenz oder biographischen Kurve eine greifbare Relevanz verschafft. Man kann darüber diskutieren und es ist noch immer nicht alles gesagt, man kann Vergleiche anstellen und der Text wird nicht leerer dadurch.

Lesebiographisch springt der Tumler vor allem die Jungen an, die so etwas noch nie gelesen haben. Und die Alten erkennen sich in ihm wieder, weil alles in der Erinnerung anders ist, als man es damals gelesen hat.

Markus Bundi macht trotz des politischen Verwertungsauftrages eine schöne Studie aus der Vorgabe, die auf jeden Fall eine ungekannte Neugierde aufweckt, die in jedem von uns schlummert. Und die schönste Stelle des Essays sitzt im Vorspann, wo der geheime Schüler Tumlers, Sepp Mall, von der Schwierigkeit spricht, etwas Gültiges zu schreiben. Denn jeder Schreibversuch hinterlässt bereits ein Sediment, das man nicht mehr wegkriegt.

„Ein Sediment, das einem den Blick auf die Dinge um einen Nuance veränderte, um einen Ton anders einfärbte.“ (7)

Markus Bundi, Wirklichkeit im Nachsitzen. Ein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk
Innsbruck: Haymon Verlag 2018, 144 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-7099-3421-0

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Markus Bundi, Wirklichkeit im Nachsitzen
Homepage: Markus Bundi
Wikipedia: Franz Tumler

 

Helmuth Schönauer, 19-08-2018

Bibliographie

AutorIn

Markus Bundi

Buchtitel

Wirklichkeit im Nachsitzen. Ein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

144

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7099-3421-0

Kurzbiographie AutorIn

Markus Bundi, geb. 1969, lebt in Neuenhof / Schweiz.

Franz Tumler, geb. 1912 in Gries bei Bozen, starb 1998 in Berlin.