Hallie Rubenhold, The Five
„Meine Absicht beim Schreiben dieses Buches war es nicht, den Mörder zu jagen und zu benennen. Mein Wunsch ist es stattdessen, den Wegen der fünf Frauen nachzuspüren, ihre Erfahrungen im Kontext ihrer Zeit aufzuzeigen und ihre Leben durch Düsternis und Licht gleichermaßen zu verfolgen.“ (S. 30)
Heute noch steht der Name Jack the Ripper als Synonym eines bestialischen Massenmörders, der die Gesellschaft seine Zeit in Atem hielt und Furcht und Schrecken verbreitet hat. Während dieser in die Geschichte eingegangen ist, sind seine Opfer – fünf Frauen – in Vergessenheit geraten. Ihnen und ihren persönlichen und sozialen Lebensumständen ist dieses Buch gewidmet.
In der Einleitung wird zunächst das historische Umfeld der Ereignisse abgesteckt. Zunächst werden die Frauenmorde des Jahres 1888 mit dem fünfzigjährigen Thronjubiläum Königin Victorias im Jahr 1887 in Verbindung gebracht. Während die Reichen und Mächtigen die Königin feierten, nahmen die sozialen Spannungen in London beinahe revolutionäre Ausmaße an. Ein Massenprotest im November 1887 wurde von der Polizei blutig niedergeschlagen und wird als „Bloody Sunday“ in die Geschichte eingehen. In diesem Stimmungsgelage beunruhigen die fünf Morde an Frauen zwischen August und November 1888 die englische und Londoner Gesellschaft zutiefst.
In fünf Kapiteln wird jeweils das Leben einer Frau dargestellt, die dem Massenmörder Jack the Ripper im Jahr 1888 zum Opfer gefallen ist. Das erste Kapitel zeichnet das Leben von Polly Walker nach, die als Tochter des Schmieds Eward Walker und seiner Frau Caroline 1845 in einem sozial heruntergekommenen Viertel zu Welt kam. Minutiös zeichnet Rubenhold die dreiundvierzig Jahre ihres Lebens ebenso nach, wie das gesellschaftliche und soziale Umfeld, in dem sie sich bewegt und das ihr Leben bestimmt hat. Dabei werden zahlreiche Parallelen zur fiktiven Welt von Charles Dickens „Oliver Twist“ gezogen, der mit viel Einfühlungsvermögen ein bis heute lebendiges literarisches Bild der Welt der Londoner Unterschicht hinterlassen hat.
Die weitern Kapitel erzählen die Geschichte von Annie Eliza Smith, Elizabeth Ericssons, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly, ihrer Kindheit und ihren schwierigen Lebensverhältnissen bis zu ihrer Ermordung. Dabei bewegen sich die Biografien immer in Verbindung mit den gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen sowie den politischen Ereignissen und damit in einen historischen Kontext gestellt.
Mit ebenso viel Einfühlungsvermögen wie detaillierter Recherche würdigt Hallie Rubenhold fünf Frauen, die heute allgemein in Vergessenheit geraten sind, während der zweifelhafte Ruhm ihres Mörders bis heute die Kriminalgeschichte prägt. Mit großer erzählerischer Geste schildert sie die individuellen Lebenswege der Frauen und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die durch bitterste Armut, fehlendes Mitgefühl und unglaubliche soziale Ungleichheit geprägt ist. Dabei korrigiert sie den in den Medien dieser Zeit verbreiteten Blick der oberen und mittleren Gesellschaftsschicht auf die Massen der Armutsviertel, die pauschal gerne als Diebe, Gauner und Prostituierte charakterisiert worden sind.
„The Five” gibt fünf Frauen und einer ganzen Gesellschaftsschicht eine Stimmung und lässt ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Ein überaus empfehlenswertes und lesenswertes Sachbuch, das die Geschichte England in der Victorianischen Ära von einer meist wenig bekannte Perspektive wieder zum Leben erweckt.
Hallie Rubenhold, The Five. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden, übers. v. Susanne Höbel [Orig. Titel: THE FIVE. The untold lives of the women killed by Jack the Ripper]
München: Nagel & Kimche Verlag 2020, 424 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-312-01186-5
Weiterführende Links:
Nagel & Kimche Verlag: Hallie Rubenhold, The Five. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden
Wikipedia: Hallie Rubenhold
Andreas Markt-Huter, 15-12-2020