Christoph Türcke, Lehrerdämmerung

christoph türcke_lehrerdämmerung.jpg„Gelernt wird heute eigenständig, beweglich, kreativ, weder Lehrern zuliebe noch nach Schablonen oder im Gleichschritt. So etwa klingt das Lied der «neuen Lernkultur». Ein vielstimmig gemischter Chor von Bildungsexperten singt es seit einigen Jahren mit wachsender Lautstärke.“ (S. 7)

Christoph Türcke setzt sich kritisch mit der gegenwärtigen Lernkultur an Schulen auseinander, in denen Lehrer zunehmend als Lernbegleiter verstanden werden und Lerninhalte an Kompetenzen und den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung und Entwicklungspsychologie ausgerichtet werden. Dabei geht die ursprüngliche Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern verloren: „Kindern Sachverhalte so zu vertiefen, dass sie ihnen zu eigen, vertraut, lieb und wert werden.“ (S. 18)

Im Mittelpunkt der neuen Bildung stehen, nach Türcke, die Schlagworte „Nonkonformismus“, „Originalität“ und „Kreativität“. Dabei sollen feste Lerngruppen von Coaching-Teams ersetzt werden, die in offenen Lernräumen auch online beraten können und den Lernenden helfen, genau festgelegte Sach- und Fachkompetenzen zu erlangen. Das flexible Schulsystem werde dabei ganz nach den Anforderungen des flexibilisierten neoliberalen Kapitalismus ausgerichtet.

In drei Kapiteln geht Türcke den Forderungen der neuen Lernkultur nach und zeigt ihre gesellschaftlichen Auswirkungen und Probleme auf. Im 1. Kapitel „Kompetenzwahn“ wird zunächst der philosophische und geschichtliche Ursprung des Begriffs „Kompetenz“ erläutert, der im lateinischen für Fachleute aller Art verwendet wurde, die ihr Handwerk beherrschten.

Die ständige Messbarkeit der Kompetenzen setzt das Bildungssystem als Ganzes unter ständigen gesellschaftlichen Druck und senkt die Anforderungen, um kein Individuum auszuschließen und dennoch auf ein hohes Bildungsniveau verweisen zu können. Am Ende verlieren Schulabschlüsse für die Aufnahme an Universitäten und Hochschulen an Bedeutung und werden durch Aufnahmetests ersetzt.

Im zweiten Kapitel „Inklusionswahn“ geht Türcke zunächst auf die Entwicklung des Begriffs „Ausgrenzung“ ein, der mit der beginnenden Arbeitslosigkeit in den 1970-er Jahren eine wesentliche Änderung erfuhr. In diese Kerbe schlägt auch das Credo der Behindertenkonvention der Vereinten Nationen, das verlangt, dass allen Menschen Teilhabe an der Gesellschaft gewährt werden muss. Viele Lehrerinnen und Lehrer verteidigen die Inklusion als einen Weg in eine bessere Welt, in der es normal ist, verschieden zu sein. Für die Bildungssysteme ergeben sich hingegen große Einsparungsmöglichkeiten an Gebäuden, Räumen und Lehrkräften, die mit den hehren Zielen der Inklusion wunderbar vereinbar sind. Und so kommt Türcke zum Urteil:

Inklusion ist ein neoliberales Projekt, kein sozialkritisches oder gar «linkes». Umso mehr schmerzt es, wieviel pädagogischer Enthusiasmus dabei verbrannt wird. (S. 75)

Übersehen wird dabei, dass Inklusion in vielen Bereichen an der Realität vorbeigeht, auch wenn nicht alle Kinder mit motorischen, sensorischen und geistigen Behinderungen von vorherein gleich in Spezialschulen ausgelagert werden sollen, die eine spezielle Förderung gewährleisten kann.

Kapitel drei „Rückbesinnung auf den Lehrer“ stellt die aktuellen Entwicklungen im pädagogischen Bereich vor. Dabei wird auf die Bedeutung des Lernens außerhalb der elterlichen Umgebung und die Vermittlung des Lernstoffs in einer gemeinsamen begrenzten „Jetztzeit“ hingewiesen.

Die Jetztzeiten des Unterrichts sind die Hochzeiten der Übertragung und Gegenübertragung. (S. 118)

Nach der Mitteilung kommt die Phase der Festigung des neuen Lernstoffs durch Üben, wodurch es zu einem festen Bestandteil der eigenen Person wird. Das so Verstandene unterscheidet sich von Kompetenzen, die sich auch mit halb oder gar nicht verstandenen Lerninhalten erreichen lassen.

Das Schreiben von Texten wird durch Ausfüllen von Textlücken ersetzt und lässt kaum noch einen Schreibfluss entstehen. Dabei wird auch der enge Zusammenhang zwischen Schreiben und Denken übersehen, durch den Wörter, Sätze und Gedanken in die Hand übergehen.

Nur wenn Lehrer einen neuen Stoff, neue Inhalte eröffnen, können Schüler diesen anschließend auch vertiefen. Wo nichts gelehrt wird, lässt sich auch mit dem besten, individualisierten Fördermaterial nichts einüben. Arbeitsblattdominierter Unterricht führt im Grunde nur dazu, eine Arbeitsblatt-Bearbeitungskompetenz zu fördern. Abschließend kritisiert Türcke die „neoliberale Bildungsoffensive“ als „Offensive gegen die Bildung. Sie will Bildung auf Kompetenz reduzieren, Haltung auf Verhalten.“ (S. 146)

Die Frage nach der Rolle des Lehrers zeigt sich damit als zutiefst politische Frage, mit der auch eine grundlegende gesellschaftspolitische Orientierung diskutiert wird.

Christoph Türcke, Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet
München: C. H. Beck Verlag 2016, 159 Seiten,15,40 €, ISBN 978-3-406-68882-9

 

Weiterführende Links:
C. H. Beck Verlag: Christoph Türcke, Lehrerdämmerung
Wikipedia: Christoph Türcke

 

Andreas Markt-Huter, 09-04-2021

Bibliographie

AutorIn

Christoph Türcke

Buchtitel

Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

C. H. Beck Verlag

Seitenzahl

159

Preis in EUR

15,40

ISBN

978-3-406-68882-9

Kurzbiographie AutorIn

Christoph Türcke wurde in Hameln an der Weser geboren und ist emeritierter Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.