Felix Philipp Ingold, Die Blindgängerin

felix philipp ingold, die blindgängerinEine sorgfältige Erzählung kümmert sich auch um das Umfeld, in welchem sie entstanden ist. Die Erzählsituation wird gemeinsam mit dem Leser in Frage gestellt. Erzähl-beruhigende und -aufwühlende Hinweise halten sich die Waage.

Felix Philipp Ingold geht gleich mit einem spektakulären Doppelbild mitten in die Erzähl-Sache. Er berichtet von einem Jeep, den der Erzähler offensichtlich restauriert hat, es gibt nämlich ein Altar-ähnliches Flügelbild mit dem Jeep vor und nach der Restaurierung. Aber auch der Autor wird gleich in Frage gestellt, schließlich handelt es sich bei Felix Philipp Ingold um einen Kunstnamen, den sich der Ich-Erzähler spaßhalber zugelegt hat, weil das Wort Felix darin vorkommt.

Und auch der installierte Held Simon Goldin dürfte mittlerweile so unbekannt sein, dass er nicht einmal in Wikipedia aufzufinden ist, wie der Autor meint.

Der Erzählvorgang beginnt mit dem Aufschlagen von Moleskine-Heften, die eher durchgesessen als durchgeschrieben sind. Aber es kommt in der Literatur ohnehin bloß auf den Effekt der Zur-Schau-Stellung in einer Vitrine an, und da wirken durchgesessene Notizbücher besser als durchgelesene.

Erst wenn man im erzählerischen Umfeld bis zu den durchgekneteten Heften durchgedrungen ist, kann man mit dem Lesen der Kern-Erzählung beginnen. Aber dieser Kern der Erzählung erweist sich bald als Kernspaltung, denn ständig zerfällt etwas, wird zu einer kritischen Masse und explodiert.

Der Ich-Erzähler soll als Simon Goldin in die UdSSR reisen, um etwas über Glasnost und Perestroika herauszukriegen. Alle Halbseite wechselt dabei die Perspektive, indem Ich-Erzähler von innen und Simon Goldin als Fakt nach außen hin berichten. Simon Goldin wird eine Übersetzerin zugeteilt, die blind ist. Theodora Minzenberg hat nach einem Unfall das Augenlicht verloren und geht jetzt als Blindgängerin durch die Welt.

Ich bin in meiner Blindheit zu Hause. (43)

Bald einmal kommen dich die beiden auch erotisch nahe und sind durch die Aufspaltung des Erzählers die ganze Zeit zu dritt. Selten ist in der Literatur das Intime so intim übertragen worden, wie in dieser Erzählkonstellation. Statt über die politischen Vorgänge zu forschen, kümmern sich die beiden um einen gewissen Reimar Rilke, der als Wiedergänger des in der Literatur bekannten Rilke sein Unwesen treibt. Obwohl alle Bücher dieser Welt schon geschrieben sind, wird der Journalist noch eines schreiben müssen, über die Blindgängerin nämlich. Sie weiß das auch und erzählt neben Geschichten, die lebensnotwendig sind, auch solche für das Buch.

Literaturfiguren kristallisieren dann zu größter Logik, wenn sie sich zu einer puren Regieanweisung zusammentun. „Wir stehen draußen im Herbst 1936.“ (120) In dieser Aufmachung lässt sich Reimar Rilke ziemlich authentisch erforschen.

Nach Beendigung der Recherchen fährt der Erzähler mit seinem Erzähl-Jeep zurück nach Basel. Er hat viel Zeit verloren aber viel Traum gewonnen. (152) Provinz ist da, wo ich bin, sagt er. In diesem Fall ist es Basel und Theodora kommt mit einer Rücksiedlergruppe in den Westen und bald nach Basel, wo sie die Sprache mit den Füßen lernt, indem sie ununterbrochen durch die Stadt wandert und dabei die Sprache aufnimmt. Der Spracherwerb ist letztlich nichts anderes als das Herstellen von Textur und Textilien, weshalb sich die Blindgängerin auch die wichtigsten Kleidungsstücke selbst strickt.

Nach einem ähnlichen Verfahren ausgebildet ist Simon Goldin inzwischen Werbetexter geworden. Eines Tages, wie am Ende eines Satzes, verschwindet Theodora, die Polizei sucht nur widerwillig, der Hinterbliebene verzichtet auf die Ausstellung eines Totenscheines. Er nähert sich seinem Computer und sieht einen Schatten am Monitor.

Wer keinen Schatten hat, ist einer! (209)

Vielleicht ist es auch nur die Krebsdiagnose mit neunundfünfzig, die ihn solche vollkommenen Säte ausstoßen lässt.

Im Bildanhang werden Sätze aus dem Text aufgegriffen und mit Bildmasse hinterlegt. So etwa könnte sich die Blindgängerin verschiedene Szenen vorgestellt haben, so etwa kann sich auch der Leser eine Textstelle vorstellen, wenn er selbst keine Vorstellung zusammenbringt.

Die Bildgängerin ist eine hochkomplizierte, vergnügliche Geschichte über den simplen Sachverhalt, dass alles nur ein Stück Imagination ist.

Felix Philipp Ingold, Die Blindgängerin. Erzählung, Bildanhang
Klagenfurt: Ritter Verlag 2018, 264 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-85415-581-2

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Felix Philipp Ingold, Die Blindgängerin
Wikipedia: Felix Philipp Ingold

 

Helmuth Schönauer, 18-11-2018

Bibliographie

AutorIn

Felix Philipp Ingold

Buchtitel

Die Blindgängerin

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

264

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-85415-581-2

Kurzbiographie AutorIn

Felix Philipp Ingold, geb. 1942 in Basel, lebt in Zürich.