Jaron Lanier, Anbruch in einer neuen Zeit

jaron lanier, anbruch einer neuen zeit„Unser Gehirn ist nicht in Stein gemeißelt.“ (77) So ein Satz verändert nicht nur die gesamte Weltlage des Denkens, sondern weist darauf hin, dass es in der Kunst tatsächlich immer Überraschungen und Weiterentwicklungen gibt.

Jaron Lanier gilt als einer der Schöpfungs-Väter der sogenannten Virtuellen Realität, professionell VR genannt. Als markantestes Bild dient dabei eine virtuelle Brille, die den User von der Realität abschottet und in eine andere Welt führt. Ein markantes Beispiel für so eine Grenzüberschreitung soll ein Foto zeigen, worauf man Jaron Lanier mit einer Virtuellen Brille im Gesicht unter mehreren Servern liegen sieht, scheinbar frei schwebend und verzückt. Dieses Bild zeigt genau, was mit der VR los ist. Die, die drinnen sind, sind verzückt, die draußen stehen, halten die Schwebenden für verrückt. Es ist dies der ideale Zustand, den eine Kunst auslösen kann.

„Anbruch in einer neuen Zeit“ beschreibt die frühe Phase von Virtual Reality, als die Hacker-Pioniere eine Unterabteilung der Hippies gewesen sind. Das Buch ist zum einen eine Autobiographie eines zufälligen Pioniers, der sich unverhofft zum Guru entwickelt, andererseits eine fachliche Aufschlüsslung der wichtigsten Vorgänge der VR.

In diese Abteilung gehört beispielsweise die kluge Aufmachung, einzelne Kapitel als Definitionen von VR zu gestalten. In 52 VR-Definitionen wird mit euphorischen Thesen das Wesen der neuen Kunst beschrieben. Definition 1:

Eine Kunstform des 20. Jahrhunderts, die die drei großen Künste dieses Jahrhunderts miteinander verbindet: Kino, Jazz und Programmieren. (20)
Definition 52: Eine Arbeitsweise mit Computern, bei der die Vorstellung von Code scheinbar abgelehnt wird. (406)

Hinter allem steckt eine unbändige Neugier auf die Welt, die von den Eltern früh gefördert worden ist. Als Holocoust-Überlebende lassen sie sich in New Mexico nieder, der Autor geht wahlweise in Mexiko und in der Wüste zur Schule, wobei das Schulsystem in Mexiko besser ist. Vater baut eine Kuppel als Abbild des Weltraums, der Autor programmiert schon als Kind Ziegen und fragt sich, wie man ihnen eine neue Erfahrung von Realität beibringen könnte. Nach einem Abstecher in New York, wo nur reiche Schnösel auf die Uni gehen, landet er in Kalifornien in einem Klima der Post-Hippies. Aus der Überlegung heraus, Bewusstseinserweiterung ohne Drogen zu betreiben, entsteht schließlich VR. Die Pioniere surfen dabei hinter den Brillen in einem Raum voller Graphik und Schwerelosigkeit.

Als perfekter Programmierer testet Jaron Lanier dann virtuelle Räusche mit Greifhandschuhen und Video-Brillen. Irgendwann in den 1980er Jahren ist diese Pionierzeit abgeschlossen und die Entwicklung geht zwei Wege.

Einmal wird VR zu einem nützlichen Medium in der chirurgischen Operationstechnik, für die Flugsimulation und die militärische Strategieentwicklung überhaupt.

Zum anderen geht VR den sogenannten „nutzlosen“ Weg als Kunst. Für die Kunst hat der Autor eine ästhetische Faustregel:

Die VR wird besser, wenn man die Grenzen der Illusion betont. (238)

Tipps für VR-Künstler sind in einer langen Liste von a bis o aufgeschrieben. Etwa:

Die wichtigste Arbeitsgrundlage ist nicht die virtuelle Welt, sondern die sensorische Schleife des Anwenders. Die muss man dehnen, schrumpfen, verdrehen und mit Schleifen anderer Personen verknüpfen. (315)

Diese Ratschläge haben den Vorteil, dass sie sich auf andere Künste übertragen lassen. Wahrscheinlich lässt sich Jazz nach den Richtlinien von VR spielen. Und die Literatur ist sowieso auf der Höhe der Anwendung. Der gesamte Kosmos eines Thomas Pynchon etwa lasst sich ja auch als Virtuelle Realität lesen, nicht nur, weil die V2 an entscheidenden Stellen immer den Helden bedroht und schon durch das bloße Anvisieren verrückt macht.

Für Technik-Freaks sind die einzelnen Komponenten aufgeschlüsselt, mit denen die Erlebnisse programmiert werden. Forschungen von Kollegen sind berücksichtigt und münden in eine Fortschreibung, wie das Ganze weitergehen soll. Denn Jaron Lanier ist nur mit seiner Herkunft, seiner Kindheit und der sonnigen Aufbruchsstimmung im Kalifornien der 1980er Jahre fertig, alles andere ist eine Schleife, die wie bei VR täglich neu generiert und aufgebaut werden muss. So endet das Buch auch mit der Ermunterung, weiterzuschreiben, es gibt nämlich bei guten Büchern hinten keinen Buchdeckel.

Jaron Lanier, Anbruch in einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert
Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 2018, 441 Seiten, 25,70 €, ISBN 978-3-455-00399-4

 

Weiterführende Links:
Hoffmann und Campe Verlag: Jaron Lanier, Anbruch in einer neuen Zeit
Wikipedia: Jaron Lanier

 

Helmuth Schönauer, 10-12-2018

Bibliographie

AutorIn

Jaron Lanier

Buchtitel

Anbruch in einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Hoffmann & Campe Verlag

Seitenzahl

441

Preis in EUR

25,70

ISBN

978-3-455-00399-4

Kurzbiographie AutorIn

Jaron Lanier, geb. 1960 in New York, lebt in Kalifornien. 2014 Friedenspreis des deutschen Buchhhandels.